Unsere Stimmen dürfen nicht verstummen - Erinnerungsarbeit und Friedensförderung im Zeichen der Corona-Pandemie in Guatemala

ZFD-Fachkraft Sebastian May und seine Kolleg*innen von der Partnerorganisation Kaji B’atz’ ermöglichen Jugendlichen Austausch und Orientierung, trotz Einschränkungen durch die Corona-Pandemie.

Extreme soziale Ungleichheit, Rassismus und die Marginalisierung der indigenen Bevölkerung verhindern seit Jahrzehnten die Konsolidierung einer friedlichen Gesellschaft in Guatemala. Infolge des Corona-Lockdowns haben sich die Probleme noch verstärkt, repressive Kräfte gewinnen Auftrieb. Damit Friedensförderung im Spannungsfeld der Pandemie möglich bleibt, halten ZFD-Fachkräfte und die Partnerorganisationen fest zusammen.

Das Panorama, vor dem Claudia und Celso stehen, könnte harmonischer nicht anmuten: Unterhalb des schattigen Felsplateaus, auf dem sich die beiden Jugendlichen treffen, liegt der Atitlánsee türkisblau in der warmen Sonne Guatemalas. Schleierwolken ziehen vorüber, im Hintergrund recken die Vulkane Tolimán, Atitlán und San Pedro ihre dunklen Kegel in den tiefblauen Himmel. Es ist ein ruhevoller Ort in der Hochlandregion Sololá, doch die Stille wird jäh durchbrochen.

Erkennen, was Gewalt mit einem macht

Celso und Claudia beginnen, sich zu streiten. Celso erhebt drohend die Faust, Claudia duckt sich weg. Celso will gerade auf sie zustürzen, bleibt dann aber stehen und schaut zu Sebastian May hinüber, der mit einem Notizblock neben ihn getreten ist. Die Szene der beiden Jugendlichen ist Teil eines Workshops zu Gewalt und Konfliktlösung, den ZFD-Fachkraft May gemeinsam mit seiner Kollegin Verónica Pérez von der Partnerorganisation Kaji B’atz’  organisiert hat und begleitet. Der Workshop soll junge Menschen dazu bewegen, sich mit Machismo auseinanderzusetzen und verdeutlichen, was Gewalt mit einem macht und wie man sich davor schützen kann.

„Vielen Jugendlichen fällt es schwer, sich alternative Verhaltensweisen überhaupt vorzustellen“, sagt May. Frustration und Aggressivität gehören für die meisten von ihnen zum Alltag. Jahrhundertelange Unterdrückung, Kolonialismus, Rassismus und nicht zuletzt der interne bewaffnete Konflikt in Guatemala haben ihre Spuren im Gedächtnis der Menschen hinterlassen. Kaji B’atz’ will hier ansetzen und fördert mit Austausch- und Bildungsangeboten die soziale Teilhabe von Jugendlichen sowie deren Einsatz für eine Friedenskultur im Land.

 

Erst 1996 endete der lange interne bewaffnete Konflikt, bei dem 200.000 Menschen ums Leben kamen und mehr als 40.000 Menschen verschwanden.
Junge Erwachsene stellen in einem Workshop von Kaji B’atz‘ eine Gewaltszene nach. Ziel ist es, bestehende Gewaltstrukturen zu hinterfragen.
Der guatemaltekische Staat fördert den Bereich der Jugendarbeit kaum, deshalb führt Kaji B’atz‘ das Engagement für junge Menschen auch im Lockdown fort.

Aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen

Die kritische Beschäftigung mit den Problemen des Landes und ein frischer Blick auf Gegenwart und Zukunft seien wesentlich, um die vorherrschenden patriarchalen Gesellschaftsstrukturen zu verändern, sagt Martina Richard, ZFD-Koordinatorin des Regionalprogramms in Mittelamerika. Sie ist heute aus Guatemala-Stadt, wo sich ihr Büro befindet, angereist, um beim Workshop dabei zu sein. Es ist eine der ersten Präsenzveranstaltungen von Kaji B’atz’ nach einem Jahr Corona-Krise. Alle scheinen froh zu sein, dass sie sich zumindest im Freien und mit Mundschutz endlich wieder persönlich treffen können.

Gerade die junge Generation, sagt Richard, nehme ihre gestaltende Aufgabe immer stärker wahr, doch brauche sie dafür Räume und Möglichkeiten für Dialog und Austausch. Diese sind jedoch begrenzt. „Die meisten Angebote werden von zivilgesellschaftlichen Initiativen ermöglicht“, so die ZFD-Koordinatorin. Würde ihr Engagement aufgrund des Lockdowns langfristig eingeschränkt, hätte das schwerwiegende Folgen für den ohnehin fragilen sozialen Frieden in Guatemala.

Weitermachen trotz Lockdown

Weil in Guatemala noch immer dieselben konservativen Kräfte das Sagen haben wie in Zeiten des internen bewaffneten Konflikts, wird die Aufarbeitung des Geschehenen weitgehend gescheut, Jugendarbeit kaum gefördert. Das müsse sich ändern, sagt Richard, trotz oder gerade wegen der Einschränkungen in der Coronavirus-Pandemie.

Denn die führten und führen in vielen Regionen zu Stillstand, Desillusionierung und einem Anstieg häuslicher Gewalt. Auch in der abgeschiedenen Gegend rund um den Atitlánsee durfte zum Schutz vor der Ausbreitung des Coronavirus monatelang niemand ein- oder ausreisen, Schulen waren geschlossen, alle Veranstaltungen abgesagt. „Klare Ansagen oder eine Orientierung, wie es weitergehen würde, gab es nicht“, berichtet Verónica Pérez von Kaji B’atz’. „Die Ungewissheit und Bedrückung waren für alle sehr belastend.“ Doch Pérez und ihre Kolleg*innen wollten diese lähmende Situation nicht hinnehmen.

 

Wissenswert

Erinnerungsarbeit für ein friedlicheres Guatemala - Rassismus, Unterdrückung und die Jahrhunderte lange Marginalisierung indigener Bevölkerungsgruppen haben in Guatemala zu extremer wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit geführt und bewaffnete Konflikte begünstigt, die massive Menschenrechtsverletzungen zur Folge hatten. Eine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen, geschweige denn Wiedergutmachung der Verbrechen,  findet kaum statt, auch wenn eine Wahrheitskommission 1999 Opfer und Täter*innen klar benannte.
 

Um den Prozess der Aufarbeitung und Versöhnung zu unterstützen, liegt der Fokus im Programm Ziviler Friedensdienst von AGIAMONDO in Mittelamerika auf Erinnerungsarbeit.
 

In El Salvador, Guatemala und demnächst auch in Südmexiko begleiten Fachkräfte ihre Partnerorganisationen unter anderem bei der Dokumentation und Archivarbeit, um Zugang zu Wissen und Wissenschaft zu ermöglichen. Zum anderen geht es darum, Jugendliche für die Vergangenheit zu sensibilisieren und Wege mit ihnen zu erarbeiten, wie sich Konflikte heute und in Zukunft friedlich lösen lassen.
 

Martina Richard koordiniert die Projektarbeit der Fachkräfte und Partner in Guatemala, El Salvador und bald auch in Südmexiko.
Der Künstler Israel Tio bietet, da es in den guatemaltekischen Schulen seines Heimatortes keinen Kunstunterricht gibt, selbst Malkurse für Kinder an.
Martina Richard besucht regelmäßig die Projektgebiete, um die Herausforderungen durch die Corona-Krise besser einschätzen zu können.

Video-Austausch gegen den Stillstand

Gemeinsam mit Sebastian May entwarf das Team einen Online-Workshop zu virtuellem Storytelling und regte die Jugendlichen dazu an, per Video die Auswirkungen der Pandemie auf ihr Umfeld zu schildern. Gelder, die die Organisation ursprünglich für Dienstreisen eingeplant hatte, wurden kurzerhand für Handyguthaben der Jugendlichen verwendet, damit sie ihre Videos auf die Vereins-Plattform hochladen und miteinander teilen konnten. Auf diese Weise war es möglich, weiterhin in Kontakt zu bleiben, den Jugendlichen eine Stimme zu geben und ihre Auseinandersetzung mit der Situation zu fördern.

Auch im Umfeld fand die Idee Unterstützung. Der Maler Israel Tio aus dem nahegelegenen Ort Santa Clara griff das Format auf. Um Kindern während des Lockdowns Beschäftigung anzubieten, hatte er Malkurse veranstaltet und dadurch bemerkt, dass viele seiner jungen Schüler*innen mittlerweile arbeiten mussten, anstatt zu lernen oder zu spielen. In einem Video befragte er sie zu ihrem neuen Alltag, stellte es bei Kaji B’atz’ online und schuf so Öffentlichkeit für das Problem.

Wir sind Teil der Partner

Wie wichtig es ist, Lebensrealitäten zu reflektieren und Herausforderungen gemeinsam anzugehen, betont auch Martina Richard. Auch deshalb fährt sie regelmäßig in die Projektregionen, denn von ihrem Schreibtisch in Guatemala-Stadt aus ist es schwer, die wirklichen Nöte der Menschen kennenzulernen oder auch wahrzunehmen, inwieweit sie von den Angeboten der Partnerorganisationen profitieren können.

Die Präsenz des Zivilen Friedensdiensts empfindet sie hier als wertvoll, insbesondere in Zeiten der Krise. Als internationaler Akteur ließe sich manchmal eine noch breitere Resonanz erzeugen, was Schutz biete vor  repressiven Maßnahmen. Wesentlich sei aber vor allem das menschliche Miteinander und die Solidarität. „Wir sind bei den Partnern, mit den Partnern und wenn man so will auch Teil der Partner“, sagt sie. „Dadurch entsteht eine Gemeinschaft, in der wir an Details arbeiten können, die peu à peu grundlegende Entwicklungen in Gang bringen.“

Auch an ihrem Arbeitsort im Büro der erzbischöflichen Menschenrechtsorganisation „Oficina de Derechos Humanos del Arzobispado de Guatemala“, ODHAG, ist dieses Prinzip gelebte Realität und half dabei, dass die Stimme der Organisation im Ausnahmezustand des Lockdowns nicht verstummte.

Vor dem Gebäude der ODHAG in Guatemala-Stadt erzählt Juan Antonio Puac Navichoc von Bischof Juan Gerardi, dem Begründer des Erinnerungszentrums.
Trotz Pandemie geht die Arbeit weiter. Martina Richard, Maria Renée Zamora, Juan Antonio Fernandez und ZFD-Fachkraft Daniel Siemund (von rechts).
Das Archiv der ODHAG wurde mit neuen Computern und Kameras pandemiegerecht modernisiert, nun kann z. B. Fotomaterial digitalisiert werden.

Menschenrechte auf dem Spiel

Als zivilgesellschaftliche Organisation setzt sich die ODHAG für die Wahrung und Verteidigung der Menschenrechte in Guatemala ein. Ihre etwa 40 Mitarbeiter*innen engagieren sich in Projekten zur juristischen Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen, zum Thema Friedenskultur und in der Erinnerungsarbeit. Neben Überlebenden des internen bewaffneten Konflikts oder deren Angehörigen werden vor allem Jugendliche angesprochen, damit sie die gewaltvolle Vergangenheit verstehen und sich für eine friedliche Zukunft einsetzen können.

Für Direktor Nery Rodenas war schnell klar, dass die guatemaltekische Regierung die Krise als Vorwand nutzen würde, um Grundechte zu beschränken, gegen kritische Journalist*innen vorzugehen, Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen zu verschleppen und eigene Interessen voranzubringen. Tatsächlich spürte das ODHAG-Team die Auswirkungen unmittelbar: Fortbildungen und Workshops konnten nicht mehr stattfinden, das Büro musste wegen Kontaktbeschränkungen schließen.

Gemeinsam stärker

Unterstützung von außen war nicht zu erwarten. „Uns blieb, die Krise gemeinsam im Team durchzustehen“, sagt Richard. „Und das hat uns noch enger zusammengeschweißt.“ Durch ein Hygienekonzept, Fortbildungen und zusätzliche technische Ausstattung war es bald möglich, die Arbeitsprozesse weiterzuführen und sogar zu verbessern.

„Mithilfe neuer Computer und Kameras konnten wir die Digitalisierung unseres Dokumentenbestands entscheidend voranbringen“, freut sich Carlos Alarcón, Leiter der Friedensarbeit bei ODHAG. Zu seinem Aufgabenbereich zählt auch die Auseinandersetzung mit der gewaltvollen Vergangenheit Guatemalas. Im Archiv der Organisation lagern hierzu zahlreiche Quellen, darunter mehrere Tausend Zeug*innenaussagen. Sie können nun vollständig digitalisiert und der Wissenschaft leichter zugänglich gemacht werden. Außerdem sollen sie in ein neues pädagogisches Konzept für die Friedens- und Erinnerungsarbeit einfließen.

Dem Schweigen Inhalte entgegensetzen

Die Traumatisierung der Menschen in Guatemala ist groß. Schätzungen zufolge 200.000 Menschen wurden während des internen bewaffneten Konflikts zwischen 1960 und 1996 getötet, mehr als 40.000 verschwanden. Doch kaum jemand spricht über die Erfahrungen und Verluste aus dieser Zeit. Auch an den Schulen ist es kein Thema. „Durch die Erinnerungs- und Bildungsarbeit unserer Partnerorganisationen erhält die junge Generation jedoch zunehmend Zugang zu diesem Wissen“, sagt Martina Richard – und somit auch eine Grundlage, um Veränderungen zu bewirken.

Das kann auch Sebastian May bestätigen, der zusammen mit Verónica Pérez bei Kaji B’atz’ gerade den nächsten Workshop plant. Er freut sich darüber, dass vor allem auch junge Frauen die Angebote nutzen. Viele ehemalige Teilnehmer*innen gehen mittlerweile einem Studium nach oder engagieren sich in sozialen Projekten. Diese Arbeit, sagt er, müsse unbedingt weitergehen – trotz Corona! Damit dem Schweigen Inhalte entgegengesetzt werden und eine friedliche Zukunft in Guatemala möglich bleibt.

Text: Sandra Weiss, Martina Richard, Daniel Siemund

19.05.2021