Internationale Zusammenarbeit und Kolonialismus

Die DVS-Leiter*innen von links: Stefan Kramer/Brasilien, Uwe Bergmeier/Südsudan, Désiré Nzisabira/Südafrika, Karin Uckrow/Nahost), Julia Krojer/Nigeria, Kamila Krygier/Kenia, Michael Detscher/AGIAMONDO, Tessa Dooms/Moderatorin, Frank Kahnert/Tschad, Cora Laes-Fettback/Fidschi und Ursula Kölbel/DR Kongo

In Johannesburg/Südafrika trafen sich vom 30. Januar bis zum 4. Februar Leiter*innen der Dialog- und Verbindungstellen (DVS) von Misereor. Schwerpunkte ihres ersten fachlichen Austauschs waren die Themen Dekolonialisierung und sozialökologische Transformation. Julia Krojer, Leiterin der Misereor-Dialog- und Verbindungsstelle in Nigeria, schildert ihre Eindrücke.

Dekolonisierung und sozialökologische Transformation

Die Frage nach dem Erbe des Kolonialismus gewinnt in internationalen Beziehungen an Gewicht. In deutschen Medien wird die Rückgabe kolonialer Raubkunst oder die Anerkennung von Genoziden durch die früheren Kolonialmächte thematisiert. Bezogen auf die Entwicklungszusammenarbeit wird Dekolonialisierung verbunden mit einer sozialökologischen Transformation nur am Rande diskutiert. Beide Themen griffen die DVS-Leiter*innen aus Brasilien, Fidschi, Libanon, Tschad, Nigeria, Kongo, Südsudan, Kenia und Südafrika auf. Sie diskutierten über Begrifflichkeiten, Rassismus, Machtverhältnisse und Beziehungsgeflechte sowie über deren praktische Umsetzung.

Mit den Dialog- und Verbindungstellen (DVS) möchte Misereor die Kooperation und den Dialog mit Partnern und anderen relevanten Akteuren in den betroffenen Ländern verbessern. Außerdem soll die Vernetzung unter den Partnern gestärkt und die entwicklungspolitischen Anliegen von Partnerorganisationen und von Misereor gefördert werden.

 

 

Gruppenarbeit und Übung zum Thema "Kolonialismus". Es ging um Fragen wie: Welche Bezeichnungen kommen Dir in den Sinn – Gewalt, Unterdrückung, Rassismus, Dehumanisierung? Und welche Gegenbegriffe fallen dir zu diesen Worten ein – Akzeptanz, friedliches Miteinander, Toleranz, Selbstbestimmung?"
Zu Besuch im Informal Settlement (Informelle Siedlungen) in Johannesburg, das "Afrika" genannt wird, weil hier viele Menschen aus afrikanischen Ländern leben. Die Bewohner*innen finanzieren sich über die Mülltrennung.
Vorne sitzen Julia Krojer, DVS-Leiterin in Nigeria, mit Tochter und Michael Detscher, der Leiter des Teams Personalvermittlung im Auftrag von AGIAMONDO.
In Autoreifen wird Gemüse angebaut, das zwischen den Bewohner*innen gerecht aufgeteilt wird. Es gibt auch einen selbstorganisierten Kindergarten.
"Intercity Ressource Centre" ist eine Partnerorganisation von Misereor, die im Bereich von städtischer Entwicklung arbeitet. Die DVS-Leiter*innen besuchten ihre Projekte und lernten dabei die informelle Siedlung – auch "Afrika" genannt – in Johannesburg kennen.
Im Vordergrund hält Stefan Kramer (DVS Brasilien) den Laptop. Frank Kahnert (DVS Tschad) begrüßt den virtuell zugeschalteten Adriano Martins, ein Misereor-Partner aus Brasilien.
Gemüseanbau in "Afrika", der Informellen Siedlung in Johannesburg.

Apartheid und Gewaltgeschichte des Kolonialismus

Johannesburg, wo die Schatten der Apartheid noch deutlich spürbar sind, erwies sich als geeigneter Ort für das erste Treffen der DVS-Leiter*innen, die auch AGIAMONDO-Fachkräfte sind. Es gab Projektbesuche zu städtischer Entwicklung in Informellen Siedlungen, Stadtführungen und die Besichtigung des Apartheid-Museums, um die Themen zu vertiefen. Misereor trägt als christliche Organisation der internationalen Entwicklungszusammenarbeit die Last der Gewaltgeschichte des Kolonialismus, in der auch die Kirche eine unheilvolle Rolle spielte, mit. Die Muster dieser Vergangenheit prägen bis heute das Handeln. Und so stellt sich für die DVS-Leiter*innen von Misereor die Frage, wie die partnerschaftliche Zusammenarbeit gestaltet und entkolonialisiert werden kann. Eine mögliche Unterstützung der Dialog- und Verbindungstellen in diesem Prozess ist angedacht. An der hybriden Veranstaltung nahmen Mitarbeitende von Misereor und von AGIAMONDO teil. Außdem waren Adriano Martins/Brasilien und Mervyn Abrahams/Südafrika als Kolleg*innen von Partnerorganisationen sowie die Expertin für Frauenrechte Françoise Mukuku aus der DR Kongo teil. Moderiert wurde die Veranstaltung von Tessa Dooms aus Südafrika.  

Den Fokus in der Entwicklungszusammenarbeit verschieben

Die UN-Agenda 2030 sieht Entwicklungspotenzial nicht nur bei den Ländern des Globalen Südens. Der Begriff "Entwicklungshelfer*in" ist nicht mehr zeitgemäß. Ebenso steht die Bezeichnung "Entwicklung" auf dem Prüfstand. Daraus entstanden folgende Fragen und Gedanken: "Wäre es nicht passender, anstelle über Entwicklung von sozialer Gerechtigkeit oder globaler Solidarität zu sprechen? Und würde der Blick auf reiche Menschen anstatt auf arme Menschen nicht eher zu Änderungen führen? Welche Veränderungen gäbe es, wenn die Entwicklungszusammenarbeit ihren Fokus dahingehend verschieben würde?" Gastredner Mervyn Abrahams von der NGO Economic Justice and Dignity Group aus Pietermaritzburg meint dazu: "Das Problem liegt an der Zentrierung des Reichtums in wenigen Händen". Kritisiert wurde, dass im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit der Status Quo der Welt eher fixiert statt verändert würde. Als aktuelle Beispiele für die weitere neo-koloniale Ausbeutung wurden die geplante Produktion von grünem Wasserstoff in Namibia u. a. für Deutschland genannt. Auch der CO2-Ausgleich, der die Übernutzung von Ressourcen bei gleichzeitiger Erreichung der Klimaziele kompensiert, zementiere die Verhältnisse.

Die Auseinandersetzung mit Dekolonialisierung und der sozial-ökologischen Transformation ist ein Prozess, der das Verlassen der eigenen Komfortzone erfordert. Die DVS-Leiter*innen wollen sich diesem Prozess im engen Austausch mit Misereor und ihren Partnerorganisationen stellen.

Text: Julia Krojer

21.02.2023