Gemeinsam stark für den Frieden - In Kolumbien berät die Philosophin Anna-Lena Diesselmann Menschen-rechtsaktivist*innen, wie sie gefährdete Bevölkerungsgruppen effektiv stärken können

AGIAMONDO-Fachkraft Anna-Lena Diesselmann (Mitte) bei einem Besuch in einem Dorf.

Trotz des Friedensabkommens von 2016 nehmen Menschenrechtsverletzungen und Drogenkriminalität in Kolumbien zu. Um insbesondere Frauen, Kinder und Jugendliche vor Gewalt zu schützen, klärt die Dirección de Reconciliación y Paz in Cali sie über ihre Rechte auf, bietet Austausch und psychosoziale Beratung an. Anna-Lena Diesselmann begleitet dieses Engagement, das Opfer wie auch Täter*innen in den Blick nimmt.

In einem am Hang gelegenen Viertel von Cali bewohnt Rosa Isignares zwei Zimmer. Zusammen mit drei Kindern sowie Enkeln und Urenkeln hat sie es noch vor Beginn der Corona-Pandemie aus Venezuela in die westkolumbianische Metropole geschafft. Rosa hat viel erlebt – Verlust, Existenznot, Gewalt. Doch nun hat sie Halt gefunden. „Ich meine keine finanzielle Unterstützung“, sagt sie, „sondern freundliche Worte, Rat und Solidarität.“

Gewalt als Unrecht begreifen

Rosa ist Mitglied einer Frauengruppe, die die Dirección de Reconciliación y Paz (Direktion für Versöhnung und Frieden) der Erzdiözese in Cali in ihrer Nachbarschaft gegründet hat. Einmal pro Woche finden Treffen statt, die von den Mitarbeiter*innen der Dirección eng begleitet werden. Es geht darum, den Frauen zu vermitteln, dass sie nicht allein sind, dass sie sich gegenseitig unterstützen können und Unrecht nicht einfach ertragen müssen.

„Viele erfahren erst durch uns, dass es nicht normal ist, wenn ihr Ehemann sie schlägt oder unterdrückt“, sagt Adriana Lozada, Koordinatorin der Frauenarbeit bei der Dirección. Insbesondere in den ärmeren, dicht besiedelten Stadtteilen nähmen die sozialen Spannungen spürbar zu. Arbeits- und Orientierungslosigkeit, aber auch eigene Gewalterfahrungen führten bei vielen Männern zu Frust und Aggressionen, die sie dann an ihren Frauen ausließen, erklärt Lozada. Umso wichtiger sei es, dass die Frauen ihre Rechte kennen, damit sie sich besser vor Gewalt schützen können.

Empowerment durch Aufklärung

Genau diese Begleitung bietet die Dirección den Frauen an. Neben psychosozialer und rechtlicher Beratung finden bei den Gruppentreffen regelmäßig Workshops über Partizipation, Menschenrechte und Solidarität statt. Außerdem sprechen Lozada und ihre Kolleg*innen das Gewaltproblem im Radio an oder verschicken Aufklärungsvideos per Messenger an die Haushalte. Inhaltlich wie methodisch werden sie dabei von AGIAMONDO-Fachkraft Anna-Lena Diesselmann unterstützt, die als Spezialistin für psychosoziale Interventionen für die Schweizer Organisation comundo in Kolumbien arbeitet. Sie berät die Mitarbeiter*innen der Dirección fachlich zu Menschenrechtsarbeit, begleitet sie aber auch zu den Gewaltbetroffenen.

Demonstration von Jugendlichen in Cali gegen Menschenrechtsverletzungen, für Aufklärung und das Ende der Gewalt.
"Wir wollen uns lebend" ist das Motto der Frauengruppe, die Strategien gegen sexualisierte Gewalt und für ihre Rechte entwickelt.
Jugendliche Straftäter*innen werden beim Ausstieg aus den kriminellen Strukturen unterstützt.

Wissenswert

Die Dirección de Reconciliación y Paz arbeitet in Cali seit 2011 mit Menschen zusammen, die in besonderem Maße von Gewalt betroffen sind. Unter ihnen sind Frauen, Kinder und Jugendliche, aber auch Ex-Kombattant*innen und Aussteiger*innen aus kriminellen Banden. Ziel ist es, ihre Lebensbedingungen zu verbessern, sie durch rechtliche und psychosoziale Beratung zu stärken und so neuer Gewalt vorzubeugen. Dazu schafft die Dirección Räume, die ein friedliches Zusammenleben sowie Schutz ermöglichen und unterstützt Prozesse zur Förderung von Vergebung und Versöhnung, Gewaltlosigkeit, der Menschenwürde und Menschenrechte.

 

AGIAMONDO-Fachkraft Anna-Lena Diesselmann begleitet dieses Engagement vor Ort. Zusammen mit ihren Kolleg*innen berät sie die unterschiedlichen Zielgruppen zu ihren Grundrechten, bildet Mitarbeiter*innen in politischem Empowerment, Konfliktlösung und Lebensberatung weiter und hilft mit, neue Instrumente zur Förderung der Menschenrechte zu entwickeln.

Jede und jeder einzelne zählt

Im Verständnis der Dirección zählen hierzu auch Täter*innen. „In manchen Stadtteilen ist Gewalt so weit verbreitet, dass gerade Kinder und Jugendliche damit aufwachsen und sie als normal und alltäglich wahrnehmen“, sagt Diesselmann. Durch Armut und fehlende Perspektiven begünstigt, rutschten viele in Milieus der Illegalität ab und würden selbst gewalttätig.

Um sie vor dieser Gefahr zu schützen oder ihnen den Ausstieg aus den Gewaltstrukturen zu ermöglichen, bietet die Dirección Kindern und Jugendlichen ebenso wie bereits Straffälligen mit ihrem Programm „Städtischer Frieden“ Beratung, psychosoziale Unterstützung und Schulbegleitung an. „Wir interessieren uns für jede und jeden einzelnen“, beschreibt Programmleiter Yesid Perlaza seinen Ansatz. Gewaltprävention ist sein Ziel. Dazu brauchten die jungen Leute Perspektiven und wirtschaftliche Sicherheit.

Den Weg zum Frieden gemeinsam beschreiten

Wie sie ihre Potenziale entdecken und gewaltfrei miteinander leben können, erfahren sie in unterschiedlichen Workshops des Programms auch von Anna-Lena Diesselmann. Drogenkonsum oder andere illegale Aktivitäten sind währenddessen tabu. Damit das funktioniert, unterstützen sich die Teilnehmer*innen gegenseitig.

Diese Solidarität bedeutet allen sehr viel: Adriana, Yesid und Anna-Lena von der Dirección ebenso wie den Jugendlichen oder Rosa Isignares von der Frauengruppe. „Auf dem Weg zum Frieden gilt es strukturelle Probleme zu lösen, politische Debatten zu führen und systematische Ausgrenzung zu überwinden“, sagt Yesid. Das gelingt nur gemeinsam – mit Wissen, Respekt und ohne Gewalt.
Mehr über Anna-Lena Diesselmanns Mitarbeit für comundo


Text: Anna-Lena Diesselmann

30.11.2020