Erzähl mir von früher: Erinnerungsarbeit in El Salvador

Elles Blanken (2.v.l. vorne) und ihre Kollegin (im blauen T-Shirt) tauschen sich mit Menschen in der Region San Vicente zu deren Erinnerungen an den Bürgerkrieg aus, der 30 Jahre später kaum aufgearbeitet ist.

Elles Blanken ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet als ZFD-Fachkraft für Erinnerungsarbeit bei Caritas El Salvador in San Vicente.

 

Die Region San Vicente, in der Elles Blanken arbeitet, war besonders stark von dem 12-jährigen Bürgerkrieg betroffen, der 1992 mit einem Friedensvertrag endete. Mit AGIAMONDO spricht die Niederländerin über die Bedeutung von Erinnerungskultur und die Wirkung ihrer Arbeit.

Frau Blanken, Sie arbeiten seit Oktober 2023 als Friedensfachkraft bei Caritas El Salvador. Was sind Ihre Aufgaben dort?

Elles Blanken: Die Caritas ist die Organisation für Sozialarbeit der katholischen Kirche. In der Region San Vicente arbeitet sie vor allem mit ländlichen Gemeinden zu Ernährungssicherheit und Anpassung an den Klimawandel. Die Aufarbeitung von Gewalt in der Vergangenheit ist ein neues Thema für die Caritas. Der Impuls dazu kam durch den Austausch mit der Caritas einer anderen Provinz, die Gedenkfeiern organisiert und kleine Museen betreibt. Auch in San Vicente hat der 12 Jahre anhaltende Bürgerkrieg viel Leid verursacht, aber es gibt kaum Aufarbeitung dieser Zeit. Hier setzt meine Arbeit. Ich unterstütze Caritas, Grundlagen für eine gelebte Erinnerungskultur zu schaffen.

San Vicente ist eine sehr ländliche Region mit vielen verstreuten Dörfern und Weilern. Während des 12-jährigen Bürgerkriegs gab es viel Gewalt.
Elles Blanken an ihrem Arbeitsplatz im Caritas Büro in San Vicente. Mit ihrer Kollegin Esmeralda fährt sie regelmäßig in die ländlichen Gemeinden, um mit den Menschen über die Vergangenheit zu sprechen.
Großeltern, Eltern und Kinder spielen Kinderspiele von früher nach, wie hier in Amatitán Arriba. Diese sollen später in einem Handbuch für traditionelle Spiele zusammengetragen werden.
Die Caritas nutzt viele interaktive Methoden in ihren Workshops. Anhand alter Fotos rekonstruieren die Menschen die Zeit im Bürgerkrieg und diskutieren über die Bedeutung von Erinnerungsarbeit.

Was genau bedeutet Erinnerungskultur im Kontext des Bürgerkrieges?

Elles Blanken: Erinnerungskultur bezeichnet das gemeinschaftliche Wissen einer Gesellschaft über ihre Vergangenheit. In San Vicente wollen wir die Menschen unterstützen, die Erinnerungen an die Vergangenheit zu bewahren, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Dabei öffnen wir bewusst das Konzept von Erinnerungskultur und sprechen nicht nur über den bewaffneten Konflikt der 1980er Jahre, sondern auch über die Armut und Ungleichheit vor dem Bürgerkrieg, und den Wiederaufbau nach den Friedensabkommen. An den Schulen kommen diese Themen gar nicht zur Sprache, aber die Menschen finden es wichtig, dass die Jugend davon weiß. Um die gelebten Erfahrungen der Menschen zu dokumentieren, arbeiten wir eng mit den Dorfgemeinschaften zusammen.

Wie gehen Sie in der Praxis beim Sammeln von Erinnerungen vor?

Elles Blanken: Meine Kollegin und ich arbeiten in zwei ländlichen Gemeinden, in Santa Clara und San Esteban Catarina, die aus mehreren Dörfern und Weilern bestehen. Nach den ersten Treffen mit den Dorfbewohnern wurde schnell klar, dass es einen enormen Bedarf an Austausch und Dokumentation der Kriegserinnerungen gibt, aber auch darüber, wie die Menschen vorher gelebt haben. Besonders die älteren Menschen waren froh, dass ihre Geschichten gehört und dokumentiert werden.

Deshalb haben wir verschiedene Aktivitäten gestartet, die generationenübergreifend funktionieren. Die Ideen dazu kamen von den Dorfbewohnern: Ein Rezeptbuch mit traditionellen Gerichten und persönlichen Geschichten aus der Region, ein Handbuch mit traditionellen Kinderspielen und ein Malbuch für Kinder, das auf den Erfahrungen der älteren Generation basiert. Diese Aktivitäten sollen auch die jüngeren Menschen ansprechen und ihnen helfen, mehr über die Geschichte ihrer Region zu erfahren.

Wie sehen die beteiligten Menschen die Erinnerungs-Projekte?

Elles Blanken: Die Reaktionen waren durchweg positiv. Die Workshops, in denen wir ihre gesammelten Ideen besprachen, waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Es war bewegend zu sehen, wie zurückhaltende Teilnehmende auf einmal ihre Geschichten teilten, so schmerzhaft sie auch waren. Ältere Teilnehmende erzählten von Spielzeugen, die sie in ihrer von Armut geprägten Kindheit aus einfachen Materialien selbst gebaut hatten – und brachten diese zum nächsten Treffen mit, wie Puppen aus Maisstängeln oder Holzkreisel. In einer anderen Gemeinde organisierte eine Jugendgruppe spontan einen Spielenachmittag für Kinder, bei dem sie die traditionellen Spiele der Älteren ausprobierten. Der Wunsch nach Austausch und Erinnerung ist stark.

In den Arbeitsgruppen, wie hier in San Esteban Catarina, kommen Ältere und Jüngere zusammen: Die erste Generation, die den Bürgerkrieg (1980-1992) miterlebt hat, ihre Kinder als zweite Generation und die dritte Generation, die Jugendlichen.
Die Gespräche über die Kindheit während des Bürgerkriegs inspirierte manche Dorfbewohner, die einfachen Spielgeräte von damals wieder herzustellen, wie diese Kochtöpfe aus Ton von Niña Santos Polina. Ein wiederkehrendes Thema bei den Treffen ist der Einfallsreichtum der Kinder, die in großer Armut aufwuchsen.
Der Austausch zwischen den Generationen ist eines der Hauptanliegen der Erinnerungsarbeit der Caritas, wie hier in Santa Clara.
In den Arbeitsgruppen kommen Menschen aus verschiedenen Dörfern zusammen. Manche Dörfer haben ein Gemeinschaftshaus, eine casa comunal, manchmal bieten Dorfbewohner ihr Haus als Treffpunkt an, wie hier bei Don Teodoro und Niña Polina in El Tortuguero im Distrikt Santa Clara.

Welche gesellschaftlichen Veränderungen durch Ihre Arbeit erwarten Sie langfristig?

Elles Blanken: Erinnerungsarbeit ist ein langfristiger Prozess. Aus Erfahrung weiß ich, dass es die kleinen Schritte und die einzelnen Menschen sind, die etwas verändern. Wir werden nicht die gesamte Jugend erreichen, aber vielleicht ein paar, wir können Impulse geben, ins Gespräch zu kommen – zum Beispiel bei dem gemeinsam entwickelten Kartenspiel, das all die Informationen über die Vergangenheit enthält und Ältere und Jüngere zusammenbrachte. 
Menschen sind soziale Wesen, aber sie schützen sich auch und verstummen, wenn es zu schmerzhaft wird. Trotzdem müssen wir über das Erlebte sprechen, um die Gründe und Auswirkungen des Krieges zu verstehen und die persönlichen Erfahrungen zu würdigen. Und auch die Reformen, die der Friedensvertrag mit sich brachten, einzuordnen.

Gibt es konkrete Auswirkungen bei den beteiligten Menschen?

Elles Blanken: Viele Dorfgemeinden zeigen Vertrauen in das Projekt. Wir bekommen oft Rückmeldungen, wie gut es tue, sich gemeinsam zu erinnern. Einige bringen sich ohne unsere direkte Begleitung in die Projekte ein. Das zeigt, dass die Erinnerungsarbeit nicht nur kulturelle, sondern auch soziale Auswirkungen hat. Die Menschen beginnen, sich stärker miteinander zu verbinden, über die Generationen hinweg: Die Älteren fühlen sich gehört und wertgeschätzt, und die Jüngeren sind inspiriert von den Geschichten: Wie war das Leben damals und wie wirkt es sich auf das Heute aus?

Was hoffen Sie, wird sich durch Ihre Arbeit in der Region langfristig verändern?

Elles Blanken: Langfristig hoffe ich, dass diese Arbeit die sozialen Bindungen zwischen den Generationen stärkt. Wir schaffen einen Raum, in dem die Menschen in San Vicente über ihre schwierigen Erfahrungen sprechen können – das ist der erste Schritt zur Heilung. Es braucht die Erinnerungen, um in die Zukunft schauen zu können, nur so kann langfristig Frieden entstehen. Und dafür braucht es die nächste Generation, die Jüngeren. Sie gut mit einzubinden ist die größte Herausforderung, aber auch der wichtigste Teil unserer Arbeit. Wir sind noch ganz am Anfang, aber wir sind auf einem guten Weg.

März 2025

Interview: Eva Tempelmann

Mehr im Video der Caritas San Vicente