Durch Kontroversen zu mehr Verständnis

Andrea Krogmann

Das Projekt "Junior Debating in the Middle East" will palästinensischen und arabischen Jugendlichen kritisches Denken vermitteln und soziales Lernen fördern. AGIAMONDO-Fachkraft Ingeborg Tiemann unterstützt die Schüler*innen dabei.

 

Friedliches Miteinander will gelernt sein – erst recht im konfliktgeprägten Nahen Osten. Gewaltfreie Kommunikation steht daher im Zentrum eines Projekts an der „De LaSalle High School“ in Jerusalem. Über strikt reglementiertes Debattieren lernen Schüler*innen, ihre eigenen Positionen zu hinterfragen und sich in andere hineinzuversetzen. Seit 2019 fördert Ingeborg Tiemann das Projekt.

„Ich verstehe deinen Standpunkt“, tönt es von der rechten Seite eines zum Diskussionspodium umgewidmeten Klassenraums der De LaSalle HighSchool im Ostjerusalemer Stadtteil Beit Hanina. „Ich respektiere deine Argumente“, klingt es fast wie ein Echo von links. An diesem Tag steht eine besondere Debatte auf dem Programm: vor laufender Kamera führen fortgeschrittene Teilnehmer*innen des von MISEREOR finanzierten Projekts „Junior Debating in the Middle East“ eine Modell-Debatte. So soll ein Video-Clip entstehen – zukünftiges Lehrmaterial, um Interessierte an die Kunst des Debattierens in Schulen heranzuführen.

Die jungen Teilnehmer*innen sammeln Argumente, checken Fakten und üben, ihre Meinungen gegenüber den anderen zu vertreten.
Jugendliche lernen, ihre eigenen Positionen zu hinterfragen und sich in andere hineinzuversetzen. Das Feedback von AGIAMONDO-Fachkraft Ingeborg Tiemann hilft dabei.
Vor laufender Kamera wird eine Modell-Debatte geführt, um das Kurzvideo als Lehrmaterial für Interessierte nutzen zu können. So soll die Kunst des Debattierens in Schulen verbreitet werden.
Nathalie Daibes (vorne rechts) aus der 10. Klasse unterstützt als Freiwillige das Debattieren in den unteren Klassen.

In Deutschland existiert "Jugend debattiert" unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten seit fast 20 Jahren als Training im Unterricht an weiterführenden Schulen. Das soll auch in Nahost Schule machen. Geht es nach Schulleiter George Naber, wird die LaSalle dabei eine führende Rolle übernehmen. In Zukunft soll an der christlich-arabischen Privatschule ein eigenes „Zentrum des Debattierens“ entstehen, das Lehrkräfte und Freiwillige aus der Schülerschaft in der Methode ausbildet.

Opponenten, nicht Feinde

Im Klassenraum stehen sich Schüler*innen der 8. und 9. Klasse an Stehpulten gegenüber. Mohammad Abuleil, Lilas Harhash, Ahmad Shakhsheer und Maria Handal repräsentieren das „Team Nein“. Das „Team Ja“ gegenüber wird vertreten durch Mohammad Owais, George Nassar und Joelle Saeed. Sie alle haben längst den wichtigsten Grundsatz des Debattierens verinnerlicht: „Der Andere ist nicht mein Feind, sondern mein Opponent.“ Ein Arbeitsblatt gibt das Thema vor: „Sollten Tablets alle gedruckten Schulbücher ersetzen?“, zu dem die Teams auf Englisch ihre Pro- oder Contra-Argumente einbringen.

Mittendrin steht Nathalie Daibes. Die projektbegeisterte Zehntklässlerin volontiert beim Debattieren in den unteren Klassen. Für den Dreh übernimmt sie die Moderation und erläutert die Regeln, die den Rahmen jeder Debatte bestimmen: Nach einer Eröffnungsrede jedes Teams argumentieren die Teammitglieder abwechselnd in mehreren Runden. Respekt ist das Zauberwort. Formeln der Wertschätzung gehören ebenso dazu wie geduldiges Zuhören: Jede*r darf ausreden, bevor die Gegenseite das Wort ergreift. Die Debatte ist zeitlich begrenzt. Sie endet mit einer Schlussrede beider Seiten. Das Ziel: die andere Seite mit Argumenten überzeugen.

Welchem Team die Schüler*innen bei der Debatte angehören, suchen sie sich nicht selbst aus. „Wenn du nur deine persönliche Meinung vertreten willst, musst du das hier ganz schnell vergessen“, sagt Nathalie. Und manchmal ändert der Austausch tatsächlich die eigene Position. „In Sachen Tablets oder Bücher war ich im echten Leben von der Tablet-Fraktion“, sagt Mohammad Owais. „Durch die Auseinandersetzung mit den Argumenten gegen die Umstellung auf Tablets habe ich meine Meinung geändert.“

Der Clip "THE STRUCTURE OF JUNIOR DEBATING"  ist einer von mehreren Demo-Filmen der Jugendlichen, mit denen sie andere Schüler*innen für das Debattieren begeistern wollen. Mehr Videos finden Sie unter "Debate" auf der Homepage der "De LaSalle High School".

„Argumentiere nie, ohne die Fakten zu kennen“

„Die vielleicht wichtigste Lektion, die ich über das Debattieren gelernt habe: Argumentiere nie ohne Wissen, also ohne die Fakten zu kennen“, sagt Nathalie Daibes. Ahmad Shakhsheer stimmt zu: „Als erstes muss ich einen Sachverhalt verstehen, dann muss ich mir meine Meinung bilden, erst dann kann ich debattieren.“ Für die Nachwuchsdebattierenden ist klar: „Wer nicht gut vorbereitet ist, ist nicht gut in der Debatte – weder im Rahmen des Projekts noch im richtigen Leben.“

An ihre Informationen kommen sie im Gespräch mit den Eltern, bei Recherchen im Internet oder ganz klassisch aus Büchern, erklärt Nathalie Daibes, für die das Projekt längst ins echte Leben abgefärbt hat. „Was immer ich jetzt höre: Ich will mehr wissen, und zwar über die verschiedenen Standpunkte!“ Auch Mohammad Owais hat das Gelernte schon erfolgreich im Alltag umgesetzt. In der Familie stand eine Neuverteilung der Kinderzimmer an. „Mit Argumenten konnte ich meine Geschwister überzeugen, mir das größere Zimmer zu überlassen.“

Debattieren schafft Freiräume

Wie die Kurzfilme erarbeitet Tiemann auch das schriftliche Material gemeinsam mit dem Kollegium und den Schüler*innen. Auf diese Weise ist „Yalla we can!“ entstanden, ein Referenzwerk für Lehrkräfte, die Alternativen zu dem in der nahöstlich-arabischen Welt dominierenden Frontalunterricht suchen. Grundsätzlich ist das schulische Lernen in der Region stark auf Einzelarbeit und Wettbewerb ausgerichtet, erklärt Tiemann. Das gemeinsame Debattieren setze da ein Gegengewicht, weil es „Freiräume schafft, in denen die Kinder sich einfach mal äußern dürfen und nicht die Besten sein müssen.“ Besonders wichtig ist ihr das soziale Lernen. So legt sie großen Wert darauf, dass auch die Schwächeren und Schüchterneren ihren Platz finden. Mit Erfolg: „Gerade Schüler*innen, die oft unterschätzt werden, fangen auf einmal an zu reden und profitieren enorm von dem Programm.“

Respekt ist das Zauberwort beim Debattieren: Jede*r darf ausreden, bevor die Gegenseite das Wort ergreift.
Beim Debattieren kommt es auf eine gute Vorbereitung an. Das Smartphone kann helfen, Sachverhalte zu verstehen und Fakten zu kennen, um mit Argumenten zu überzeugen.
Soziales Lernen ist Ingeborg Tiemann wichtig. Mit dem Debattieren will sie Freiräume schaffen, in denen die Kinder sich ohne Leistungsdruck äußern dürfen.
Bei den Dreharbeiten zum Video-Clip moderiert Nathalie Deibes und achtet darauf, dass alle die Regeln des Debattierens einhalten.

Wissenswert

Ein Projekt, das Schule macht

Der langwierige Konflikt im Nahen Osten prägt das Leben der Menschen, insbesondere der Heranwachsenden in der Region. Vor diesem Hintergrund fördert MISEREOR gezielt Projekte, die den friedlichen Dialog stärken und positive gesellschaftliche Impulse setzen, wie das „Junior Debating in the Middle East“ an der LaSalle High School. In dem Projekt geht es darum, Jugenddebatten speziell für Schüler*innen der 7. bis 9. Klasse als Lernfeld einzuführen, um kritisches Denken, soziale Kompetenz und sozio-emotives Lernen zu fördern. In Zukunft soll dabei auch die interkulturelle Ebene des Globalen Lernens stärker in den Fokus rücken. Seit 2019 unterstützt die Diplompädagogin und AGIAMONDO-Fachkraft Ingeborg Tiemann das Projekt als Projektkoordinatorin und Trainerin. An anderen Schulen und in Netzwerken informiert sie über den Ansatz, damit Debattieren auch andernorts Schule macht.
Die De LaSalle High School gehört zu den De LaSalle Brothers, einem römisch-katholischen Schulorden, der weltweit Schulen und Universitäten unterhält. Die Schule im Ostjerusalemer Stadtteil Beit Hanina ist im Nahen Osten mit einem Netzwerk von Schulen in Palästina, Ägypten, Jordanien, Libanon, Südsudan und der Türkei verbunden. Zurzeit besuchen etwa 1000 Kinder und Jugendliche die LaSalle in Jerusalem, von der Vorschule bis zum Tawjih (dem arabischen Abitur).

 

Dabei bleibt die Fachkraft, die sich seit mehr als zehn Jahren für deutsche Entwicklungsprojekte in Nahost engagiert, realistisch. Soziales Lernen sei nicht Teil des arabischen Curriculums. Dass das Projekt dennoch in den Lehrplan fand, liege an einem positiven Nebeneffekt: „Den Freiraum für das Debattierprojekt bekommen wir über einen Umweg, weil es die englische Sprache fördert.“ Wenngleich anfangs vielleicht die versteckte Englischnachhilfe dem Debattieren die Türen geöffnet hat, findet das seit drei Jahren laufende Projekt mittlerweile allseits Anklang.

Mehrwert für die Bildung

An Herausforderungen mangelt es im durchgetakteten palästinensischen Schulalltag für Ingeborg Tiemanns Projekt nicht: An der Schule herrsche Raummangel, viele Lehrkräfte seien völlig überlastet. Zeit für freiwilliges Engagement bleibe da kaum. Auch die vorherrschende Lehrmethode des Auswendiglernens sei für die Debattierkultur wenig förderlich. Hinzu komme, so Tiemann, die politische Situation, in der „sich von heute auf morgen ständig die Realität verändern kann.“

Gerade Schüler*innen, die oft unterschätzt werden, fangen auf einmal an zu reden und profitieren enorm von dem Programm.

AGIAMONDO-Fachkraft Ingeborg Tiemann

Einen starken Fürsprecher hat Ingeborg Tiemann in Schulleiter Naber. Er war es auch, der von Ingeborg Tiemanns Ansatz hörte und MISEREOR bat, seine Schule mit einem Debattierprojekt zu unterstützen. „Wir leben in einem Konfliktgebiet, in dem wenige an den Nutzen des Debattierens glauben. Wir dagegen geben unseren Kindern über das Debattieren Kompetenzen, mit Konflikten umzugehen und respektvoll nach Lösungen zu suchen“, so Naber. Debattieren bedeutet für ihn einen Mehrwert für die Bildung seiner Schüler*innen.

Als wertvoll erachten Tiemann und Naber auch die Vernetzung mit anderen Schulen, um den Ansatz weiter zu verbreiten. Neben Debattierwettbewerben zwischen verschiedenen Einrichtungen in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Israel gab es gemeinsame Projekte mit Schulen in Jordanien und Ägypten – schon vor Covid-19 wegen hoher bürokratischer Hürden keine einfache Aufgabe. Gerade für die soziale Komponente des Projekts bedeuteten die pandemiebedingten Einschränkungen eine zusätzliche Herausforderung. Fast sofort stellten sie auf Online-Formate um, so dass auch in Corona-Zeiten debattiert werden konnte.

Weltsicht weiten

Gut tut das Debattierprojekt den Schüler*innen und Schulen nach Einschätzung Tiemanns zudem auf einer anderen Ebene. Um den Schüler*innen eine globale Perspektive zu vermitteln, lädt sie zu den Online-Debatten immer wieder internationale Gäste ein. Mal debattieren diese direkt mit den Jugendlichen, mal stellen sie ein Dilemma aus ihrem Arbeitsbereich vor, das die Schüler*innen dann ausdiskutieren. Erste Gesprächspartnerin der palästinensischen Jugendlichen: Eine Fachkraft von AGIAMONDO aus Ho Chi Minh Stadt in Vietnam. In der Debatte ging es um Impfgerechtigkeit – ein Thema, das gerade im Zuge der Corona-Pandemie an Aktualität gewonnen hat, und das durch die unterschiedlichen Realitäten in Israel, Jerusalem und im besetzten Westjordanland einen konkreten Bezug zum Leben der Schüler*innen hat. Gerade dieser Austausch ist wertvoll für die Teilnehmer*innen, ist Tiemann überzeugt: „Die Kinder treffen auf Welten, die sie überhaupt nicht kennen. Das trägt erheblich zur Erweiterung des persönlichen Horizonts bei.“

Text: Andrea Krogmann*

Dezember 2021

Dieser Artikel stammt aus dem AGIAMONDO-Magazin "Contacts", Ausgabe 3/2021. Die Gesamtausgabe und die PDF-Version des Artikels finden Sie hier zum Download.

* Andrea Krogmann ist Theologin und Fotojournalistin und berichtet für die katholische Nachrichtenagentur (KNA) aus dem Nahen Osten.