Das Leben teilen

Am Nachbarschaftslädchen trifft Ulrike Purrer Kinder aus dem Ort.

Wie in Kolumbien aus langjährigem Leben mit den Menschen vor Ort gemeinsame Lernerfahrungen entstehen

 

Vor zehn Jahren nahm Ulrike Purrer als Fachkraft im Auftrag von Comundo ihre Arbeit bei der Fundación Afrosinfronteras in Kolumbien auf. Im Centro Afro Juvenil in Tumaco unterstützt die Diplom-Theologin Jugendliche dabei, Wege in ein gewaltfreies und eigenständiges Leben zu finden. Und hat dabei nicht nur zusammen mit den Partnern die Jugendarbeit weiterentwickelt, sondern im gemeinsamen Lebensalltag auch viele Lernerfahrungen gemacht.

Lebensalltag teilen

Darin waren sich beide Seiten gleich einig: Dass es natürlich konkreter Fachkenntnisse und methodischer Kompetenzen bedarf, viel entscheidender jedoch die Präsenz und Interaktion mit den Menschen vor Ort ist. Purrer bezog eine kleine Holzhütte ohne fließend Wasser, in der Nähe des Jugendzentrums, das sie in den nächsten Jahren begleiten sollte und verbrachte, weit abgeschieden von den wirtschaftlichen und politischen Zentren des Landes, zunächst viel Zeit auf der Straße und mit Hausbesuchen.

Gewalt und Armut im Viertel betrifft besonders junge Menschen. Ulrike Purrer sucht mit ihnen nach gewaltfreien Wegen und Lebenszielen.
In der Nachbarschaft
Drei Viertel der Bevölkerung des Nuevo Milenio sind Geflüchtete, die durch den Konflikt aus ihren Dörfern in die Stadt vertrieben wurden.

Ziel der Zusammenarbeit war die institutionelle und pädagogische Stärkung der Jugendarbeit, deren Team aus einem jungen Priester sowie etlichen ehrenamtlichen Jugendlichen bestand. Diese sollten dabei begleitet werden, ihre Rechte und gesellschaftlichen Partizipationspotenziale kennenzulernen und im Sinne einer kreativen Friedenskonstruktion von unten praktisch zu nutzen. Der Prozess steckte noch in den Kinderschuhen. Die Partner wünschten sich daher eine zupackende Person von außen, die Initiative ergriff und Verantwortung übernahm. "Mir gingen jedoch die Vorgaben aus den Vorbereitungsseminaren nicht aus dem Sinn, dass die Menschen vor Ort die Protagonisten sein müssen und ich nur unterstützend aus der zweiten Reihe heraus agieren sollte", berichtet Purrer. In der Praxis gelang beides. "Je besser wir uns im gemeinsam gelebten Alltag – beim Wasserholen am Brunnen oder bei nächtlichem Stromausfall und Kerzenschein, im kleinen Nachbarschaftslädchen oder im Gottesdienst – kennenlernten, umso harmonischer griffen beide Dimensionen ineinander", erzählt sie. Mal sei sie die treibende Kraft, mal lasse sie sich von den Ideen und Initiativen der Jugendlichen überraschen.

Gemeinsam Wege entwickeln

Das ermöglicht einen kollektiven Prozess, an dem sich alle gleichermaßen aktiv beteiligen und neue Erfahrungen machen. "Nie hätte ich mir träumen lassen, eines Tages eine Zirkusgruppe zu leiten oder ein Tonstudio mit jungen Hip-Hoppern aufzubauen," erzählt die 45-Jährige, die ein Aufbaustudium in Straßenpädagogik absolviert hat. Aber hier gehe es eben nicht um die eigenen Interessen, sondern um die Bedürfnisse der Menschen vor Ort. "Meine Aufgabe ist es, ihre Träume und Potenziale wahrzunehmen und gemeinsam Wege zu entwickeln, in die dann auch meine Erfahrungen und Sachkenntnisse einfließen können." Nach all den Jahren trägt das Zentrum auch ihre Handschrift, wie klare Strukturen, ökologische Kriterien und konsequente politische Unabhängigkeit.

 

Wissenswert

Die Partnerorganisation vor Ort: Die Fundación Afrosinfronteras hat sich zum Ziel gesetzt, solidarische Programme im Bereich der sozialen und kulturellen Entwicklung mit von Armut und Ausgrenzung betroffenen Menschen und Gemeinschaften zu entwickeln, um deren Lebensqualität zu verbessern. Das Centro Afro Juvenil in Tumaco unterstützt Kinder und Jugendliche aus dem Viertel Nuevo Milenio dabei, Wege in ein gewaltfreies und eigenständiges Leben zu finden. In der Jugendarbeit geht es um gesellschaftliche Partizipation, gewaltfreie Konfliktbearbeitung, Frieden und Menschenrechte.

Veränderungen anstoßen

"Ich bin überzeugt, dass sich der Mehrwert einer Fachkraft nicht allein in institutioneller Stabilität widerspiegelt, sondern auch und gerade in den vielen unscheinbaren Veränderungen im Alltag der Jugendlichen", sagt sie. Gerade unter den jungen Frauen beobachtet die Theologin zunehmend selbstbestimmte Lebenswege mit ehrgeizigen Studien- und Berufszielen und ein großes gesellschaftspolitisches Engagement.

Bewusst setzt die Rostockerin, motiviert von der eigenen realen Friedenserfahrung in Deutschland, auf Gewaltfreiheit. Der Friedensprozess in Kolumbien sei zwar noch lange nicht abgeschlossen, so Purrer. Doch das Jugendzentrum sei inzwischen zu einer anerkannten Institution für eine kreative, glaubwürdige Friedensarbeit geworden. Selbst die UN und Regierungsprogramme zur Reintegration von Ex-Kombattanten suchten kontinuierlich den Kontakt.

Lebendige Solidarität

Für einen gemeinsamen Lernprozess, so Purrer, brauche es eine echte Anstrengung beim viel gepriesenen Konzept der Augenhöhe. Diese drücke sich nicht nur im punktuellen Austausch von Fachexpertise aus, sondern im gemeinsamen Alltag, der die gewünschte Solidarität lebendig werden lasse – auch in Krisen wie etwa der Corona-Pandemie. "Am Ende profitieren davon beide Seiten", sagt sie. "Denn auch ich werde natürlich mit unzähligen wertvollen Erkenntnissen aus diesem Einsatz herausgehen."

Text: Ulrike Purrer

Dezember 2021

Dieser Artikel stammt aus dem AGIAMONDO-Magazin "Contacts", Ausgabe 3/2021. Die Gesamtausgabe und die PDF-Version des Artikels finden Sie hier zum Download.