Bei Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Dekolonisation voneinander lernen

Noelia Crespo Calatayud aus Bolivien und Valérie Viban aus Kamerun (links) sprechen auf dem Katholikentag 2022 in Stuttgart über ihre Erfahrungen.

Noelia Crespo Calatayud aus Bolivien und Valérie Viban aus Kamerun arbeiten seit zwei Jahren im Rahmen des Weltdienst-Programms von AGIAMONDO als Süd-Nord-Fachkräfte in Deutschland zu Themen wie Umweltschutz, Nachhaltigkeit und kolonialem Erbe sowie Dekolonisation. Im Gespräch erzählen sie, warum verschiedene Perspektiven in der Entwicklungszusammenarbeit so wichtig sind.

Wo und zu welchen Themen arbeiten Sie als Süd-Nord-Fachkraft in Deutschland?

Noelia Crespo: Seit 2020 berate ich die Diözesanstelle Weltkirche in Hildesheim zu Klimagerechtigkeit und Nachhaltigkeit und mache auf die Auswirkungen unseres Handelns auf globaler Ebene aufmerksam: Woher kommen Rohstoffe wie Lithium für unsere Smartphones und E-Autos und E-Bikes? Wieso gefährden unsere Essgewohnheiten den Regenwald im Amazonasgebiet? Meine Zielgruppe sind junge Menschen, aber die Themen betreffen uns alle.

Valérie Viban: Ich arbeite bei Justitia et Pax in Berlin und entwickle dort ein Konzept für den Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und die Aufarbeitung des kolonialen Erbes, das Partner in Ländern des globalen Südens mit einbezieht. Mein Heimatland Kamerun war eine der deutschen Kolonien in Afrika. Gemeinsam mit kirchlichen Akteuren und Organisationen wie AfricAvenir wollen wir mehr Raum für afrikanische Perspektiven schaffen.

 

Treffen von Vertreter*innen der deutsch-bolivianischen Partnerschaften in Wolfsburg: Margartina Farfan, Norbert Batzdorfer, Noelia Crespo, Bischof Aurelio Pesoa und Roger Rocha Torrico (v. lks.)
Dietmar Müßig, Leiter des Referats Weltkirche des Bistums Hildesheim, und Noelia Crespo im Büro des Bistums im Mai 2020
Podiumsveranstaltung "Menschenwürde oder Würde der Natur – Perspektiven für eine umfassende Verantwortung", Noelia Crespo spricht über die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt.
Den Zusammenhang von Lebensmittelverschwendung in Deutschland und der Ernährungssouveränität in Bolivien thematisieren Noelia Crespo, Theresa Berghof, Initiative Foodsharing, und Roger Rocha Torrico (v. lks).

Was hatten Sie sich für Ihre Zeit als Fachkraft vorgenommen und was haben Sie erreicht?

V. V.: Meine Vorstellung war, mit jungen Menschen auf eine sehr praktische und partizipative Weise zum kolonialen Erbe zu arbeiten. Ich habe jedoch feststellen müssen, dass es zwar ein zunehmendes Bewusstsein für das Thema gibt, aber wir immer noch dabei sind zu klären, was Dekolonisation bedeutet: der Abschied von kolonialen Strukturen, auf denen unsere Welt bis heute aufbaut, und der Beginn eines echten Dialogs. Hier haben wir noch einen langen Weg vor uns.

N. C.: Ziel meiner Arbeit war es, die Verbindungen und Partnerschaft zwischen Bolivien und Deutschland zu stärken. Das ist aus meiner Sicht ganz gut gelungen. Zwar ließen sich viele ursprünglich geplanten Projekte pandemiebedingt nicht umsetzen. Dafür entstanden andere tolle Initiativen wie ein Fotowettbewerb und ein Kooperationsprojekt mit der Fair-Handelsgesellschaft "El Puente". Besonders stolz bin ich auf das Workcamp, das gerade stattgefunden hat und dessen Planung ich zum Großteil übernommen habe: eine Gruppe junger Leute ist für drei Wochen ins Amazonasgebiet nach Bolivien gereist, um sich dort mit Gleichaltrigen zu Themen wie Rohstoffabbau, Monokulturen und der Situation von Indigenen auseinanderzusetzen.   

 

Treffen mit einer Arbeitsgruppe der Justice and Peace Kommission, in der sich Angehörige aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und dem katholischen Netzwerk mit dem kolonialen Erbe auseinandersetzen.
Valérie Viban, der sich mit der Aufarbeitung des kolonialen Erbes in Deutschland befasst, hält auf dem Katholikentag einen Impulsvortrag darüber, wie menschenwürdiges Leben global gestaltet werden kann.
Der Erzbischof und Apostolische Nuntius in Kamerun, Julio Murrat (zweiter v. Links), empfängt die Justice and Peace Kommissionen aus Kamerun und Deutschland.
Besuch bei Bischof Joseph Marie Ndi Okala von Mbalmayo, der als Experte für kamerunische Missionsgeschichte eine wichtige Rolle bei den Diskussionsrunden zur Aufarbeitung des kolonialen Erbes spielt.
Valérie Viban und Jörg Lüer während einer Arbeitssession mit der kamerunischen Arbeitsgruppe zu Kolonialem Erbe.
Valérie Viban und Jörg Lüer von Justitia et Pax (2. v. lks.) besuchen Erzbischof Andrew Nkea, Präsident der Justice and Peace Kommission von Kamerun.
Princess Marilyn Duala Manga Bell (re.) ist Entwicklungsexpertin und Urenkelin von Rudolf Duala Manga Bell. Er wurde als Anführer der Widerstandsbewegung gegen die deutsche Kolonialmacht 1914 hingerichtet.

Was haben Sie in Ihrer Fachkraftzeit gelernt?

V. V.: Mir ist bewusst geworden, dass Machtstrukturen innerhalb der Internationalen Zusammenarbeit stärker sind als gedacht. Umso wichtiger ist es – und das nehme ich aus meinem bisherigen Einsatz mit AGIAMONDO mit – Plattformen für einen echten Dialog, eine echte Zusammenarbeit zu schaffen, in der es nicht um "entweder-oder" geht, sondern um ein "sowohl als auch". Das ist ein anhaltender Lernprozess, für beide Seiten.

N. C.: Ich habe inhaltlich und im Arbeitsalltag verschiedenste Sicht- und Herangehensweisen kennengelernt. Das finde ich sehr bereichernd. Ich habe außerdem gelernt, Geduld zu haben – mit anderen und mit mir. Mein Einsatz fiel in den Beginn der Pandemie, die viele Menschen hart getroffen hat, vor allem in Ländern des Südens. Auch ich habe Angehörige verloren. Ich habe Zeit gebraucht, Kontakte in Deutschland zu finden und bin nun umso gelassener, was künftige Wege betrifft.

Was nehmen Sie mit für Ihren künftigen Arbeits- und Lebenskontext?

N. C.: Nach meinem Einsatz beschäftigt mich die Frage mehr denn je: Wie können wir miteinander und voneinander lernen, uns respektvoll zu behandeln? Dafür ist es wichtig, sich eigener Prägungen bewusst zu sein: welche Geschichte(n) trage ich in meinem Rucksack, welche Rollen, welche Werte? Diese intensive Auseinandersetzung mit Beziehungen zwischen Ländern und Menschen ist ein langsamer, aber nachhaltiger Prozess. Es ist schön zu sehen: Auch wenn wir anders denken mögen, sitzen wir gemeinsam auf diesem Planeten und sollten ihn – und uns – entsprechend gut behandeln.

V. V.: Trotz – oder besser: wegen – der diversen Herausforderungen in meinem Arbeitsfeld habe ich meinen Einsatz um ein weiteres Jahr verlängert. Es sind die vielen, nicht immer einfachen Begegnungen, die mir zeigen, dass Wiedergutmachung möglich ist: Während eines Gesprächs beim Katholikentag in Stuttgart im Mai diesen Jahres, bei einer Begegnung des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit afrikanischen Aktivist*innen oder bei den regelmäßigen Treffen mit der Arbeitsgruppe zum Umgang mit dem kolonialen Erbe im Auswärtigen Amt. Ich möchte die Auseinandersetzung mit Dekolonisation weiter vorantreiben, es gibt noch so viel zu tun!

10.08.2022

Interview: Eva Tempelmann