Über den "Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und Versöhnung" und dessen Bedeutung für AGIAMONDO

Hermann Bredehorst/AGIAMONDO

Dr. Friederike Repnik, Beraterin auf Zeit, und Martin Vehrenberg, stellvertretender Geschäftsführer bei AGIAMONDO, sprechen im Interview über über das Schwerpunktthema "Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und Versöhnung", für das sich der Zivile Friedensdienst (ZFD) mit seinen Partnerorganisationen in sechs Landes- und Regionalprogrammen engagiert.

 

Gewalterfahrungen dringen ein in Identitäten, erschüttern Gesellschaften und wirken zerrüttend auf das Sozialgefüge vieler Menschen – über Generationen hinweg. Um diese Dynamiken zu erkennen und gesellschaftliche Transformation zu unterstützen, fokussiert der Zivile Friedensdienst (ZFD) von AGIAMONDO in enger Zusammenarbeit mit zahlreichen Partner*innen auf das Thema "Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und Versöhnung".

AGIAMONDO arbeitet im ZFD seit 2009 zum Thema "Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und Versöhnung". Was war die Motivation für diesen Fokus?

Martin Vehrenberg (MV): Als kirchlicher Akteur in der Friedensförderung und katholischer Träger gestalten wir unser ZFD-Programm inhaltlich, fachlich und politisch in einer Weise, die unserer spezifischen Kirchlichkeit und damit unserer Identität entspricht. Teil der Weltkirche zu sein und in diesen Zusammenhängen zu agieren, ermöglicht uns Zugänge, Beziehungskontinuitäten und Räume der Begegnung, die von Vertrauen geprägt sind. Das ist gerade in Kontexten, in denen Gewalt eine Rolle spielt, sehr wichtig. Wir arbeiten mit zahlreichen kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Partnern zusammen, die in diesem Themenfeld aktiv sind. Ihre solidarische Begleitung hat für uns hierbei einen besonderen Stellenwert.

Dr. Friederike Repnik (FR): Wir bringen also gerade auch aufgrund unserer kirchlichen Identität besondere Potenziale in diesem Feld mit. Im Geist der Katholischen Soziallehre ist das Prinzip der Personalität für uns handlungsleitend. Wir setzen nicht primär auf der Ebene von Strukturen an, sondern nehmen die Menschen in ihren konkreten Lebenssituationen, mit ihren konkreten Erfahrungen in den Blick. Das ist unser Ausgangspunkt. Das ist unsere Grundlage. Dort gehen wir in Beziehung, schaffen Begegnung, treten in Dialog. Wir schauen, wo wir die Menschen stärken können, damit sie wieder Teil von persönlichen, sozialen, aber auch gesellschaftlichen Transformationsprozessen werden. Gerade nach Erfahrungen von Gewalt ist diese Herangehensweise wesentlich.

Mit welchen Herausforderungen sind Gesellschaften konfrontiert, deren Geschichte von Gewalt geprägt ist?

FR: Das kommt ganz auf den jeweiligen Kontext und die konkreten Erfahrungen der Menschen an. Allgemein gilt, dass Gewalt nie abstrakt ist, sondern immer konkret erlebt wird. Unabhängig von den körperlichen und seelischen Folgen für die Betroffenen führt die Anwesenheit von Gewalt in den meisten Gesellschaften dazu, dass sich Menschen zurückziehen. Oft ist es Selbstschutz vor erneuter Gewalterfahrung oder davor, über das Erlebte sprechen zu müssen. Oder auch mit Taten in Verbindung gebracht zu werden. Und das betrifft Gewaltopfer ebenso wie Täter*innen und Zuschauer*innen. Der Rückzug in die Anonymität führt dazu, dass keine aktive Teilnahme an sozialen und gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen mehr stattfindet. Es entstehen Brüche in der Kommunikation, Brüche in Beziehungen. In der Konsequenz kommt es zu einer Fragmentierung der Gesellschaft, die gemeinschaftliches Handeln erschwert und Veränderungsprozesse hin zu gewaltfreien Konzepten des Zusammenlebens fast unmöglich macht.

 

 

Martin Vehrenberg ist stellvertretender Geschäftsführer bei AGIAMONDO.
Der ZFD von AGIAMONDO arbeitet weltweit mit Partnern zum "Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und Versöhnung" zusammen. In sechs Ländern und Regionen in Afrika, Lateinamerika und Südasien hat AGIAMONDO das Thema als Schwerpunkt implementiert.
Dr. Friederike Repnik begleitet als "Beraterin auf Zeit" die ZFD-Landesprogramme von Liberia, Südsudan, Große Seen, Sri Lanka, Kolumbien und Zentralamerika.

Wie können die Partner diesen Folgen entgegenwirken?

MV: Wenn wir über den "Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und Versöhnung" sprechen, müssen wir uns zunächst klarmachen, was das bedeutet. In den meisten Kontexten, in denen wir arbeiten, ist Gewalt in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Intensität weiterhin gegenwärtig. Auch wenn ihr Ursprung auf frühere Ereignisse zurückgeht. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass Beziehungen von Misstrauen oder Stigmatisierung geprägt sind, dass aggressives Verhalten als normal empfunden wird oder Betroffene von sozialer Teilhabe ausgeschlossen bleiben. Was in der Vergangenheit erlebt wurde, hat viele Logiken und Umgangsformen so stark verändert, dass die Gewalterfahrungen bis heute fortwirken.

FR: Deshalb müssen wir in aktuellen Konflikten immer beides im Blick haben – die Erfahrungen, die in der Vergangenheit gemacht wurden, und die Herausforderungen, die in der Gegenwart bestehen und letztlich Auswirkungen des Geschehenen sind. Was sich dann zeigt, sind Identitäten, Werte und Normen, die durch Gewalt verletzt und verändert wurden. Das ins Bewusstsein zu heben und aktiv damit umzugehen ist unser Anliegen und das unserer Partner. Und dazu braucht es mehr als nur Gespräche oder Mediation. Es braucht eine ganzheitliche Auseinandersetzung, die tiefer geht und die individuelle, aber auch kollektive Erfahrungen anspricht. Es braucht Transformation.

Welche Ansätze oder Methoden verfolgen die Partner, um das zu erreichen?

FR: Unser aller Ziel ist es, die Würde des Menschen wiederherzustellen und sie zu schützen. Und das hat ganz viel mit Ermächtigung zu tun. Es hat damit zu tun, dass wir den Brüchen, die durch Gewalt entstehen, entgegenwirken. Dass wir die Menschen in ihrer Lebenssituation, in ihrem konkreten Eingebundensein stärken und sie darin unterstützen, wieder in Beziehung zu gehen mit sich selbst und mit ihrem Umfeld. Das ist sehr wichtig für eine Gemeinschaft, wenn sie Veränderungsprozesse gestalten möchte für ein würdevolles und gewaltfreies Zusammenleben.

 

Wissenswert

Vom Workshop zum Schwerpunkt: AGIAMONDO beginnt 2009 die Zusammenarbeit mit der Deutschen Kommission Justitia et Pax zum Thema "Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und Versöhnung". Zunächst manifestiert sich das gemeinsame Engagement in diesem Bereich vor allem in der Organisation und Durchführung internationaler Workshops. 2017 vertieft AGIAMONDO den Zugang und erarbeitet gemeinsam mit der Kommission und dem weltweiten Partnernetzwerk ein Strategiepapier, das die Kernerfahrungen der bisherigen Kooperation erfasst und strategische Schritte formuliert, wie ein entsprechender Schwerpunkt des ZFD von AGIAMONDO entwickelt werden kann. 2018 ermöglicht die Einrichtung der Stelle "Beraterin auf Zeit" eine bessere fachliche und inhaltliche Begleitung der Landesprogramme Liberia, Südsudan, Große Seen, Sri Lanka, Kolumbien und Zentralamerika, die mittlerweile als Schwerpunktländer/-regionen benannt sind. Um den Erfahrungsaustausch der Akteure zu fördern und relevante Aspekte im Themenfeld zu vertiefen, werden 2020 Fokusgruppen eingerichtet, die sich länderübergreifend vernetzen. Durch die Corona-Pandemie können Treffen zunächst nur virtuell stattfinden. Bis 2022 entstehen so aber auch neue Möglichkeiten der Kommunikation, die Partner und Fachkräfte nutzen, um ihre Zusammenarbeit – auch über das Netzwerk von AGIAMONDO hinaus – zu verstärken.

 

MV: Die sogenannten Friedensbedarfe, also die Handlungsfelder, in denen unsere Partner arbeiten, unterscheiden sich je nach Land und Dynamik vor Ort. Wie gesagt, Gewalt ist nichts Abstraktes, sondern immer konkret und immer kontextuell. Im Südsudan zum Beispiel, einem Land, das seine Unabhängigkeit 2011 mit Gewalt erkämpft hat und das bis heute nicht zur Ruhe kommt, leisten unsere Partner vor allem psychosoziale Begleitung und Stabilisierungsarbeit. An der katholischen Universität gibt es zum Beispiel ein Projekt, das Studierende aus unterschiedlichen Ethnien in Aktivitäten zusammenbringt, wo sie lernen, sich ohne Misstrauen zu begegnen.

FR: In Ruanda geht es viel um Versöhnungsarbeit nach dem Genozid 1994. Dort schaffen unsere Partner Dialogräume für Opfer und Täter*innen, in denen Prozesse der Aufarbeitung, aber auch Fragen zu Vergebung begleitet werden. Und in Kontexten wie Guatemala oder El Salvador wiederum konzentrieren sich viele Partnerorganisationen auf inklusive Erinnerungsarbeit, da von staatlicher Seite nur wenig dafür getan wird, dass die erlebte Gewalt in den Bürgerkriegen anerkannt und reflektiert wird. In Museen oder Ausstellungen bieten sie Zugänge zu den Geschehnissen, sammeln Zeugnisse oder organisieren Workshops, in denen auf kreative Weise Auseinandersetzung stattfinden kann.

Wie unterstützt der ZFD/AGIAMONDO das Engagement in den Partnerländern und was zeichnet diese Arbeit aus?

FR: Unsere ZFD-Fachkräfte und Koordinator*innen arbeiten in insgesamt 14 Ländern mit Partnern zusammen, die sich mit Fragen zum "Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und Versöhnung" befassen. In sechs Ländern oder Regionen in Afrika, Lateinamerika und Südasien hat AGIAMONDO das Thema als Schwerpunkt implementiert und die Auseinandersetzung damit verstetigt und intensiviert. Die Fachkräfte arbeiten dort in den Partnerorganisationen und kirchlichen Einrichtungen bei der Projektplanung und -durchführung mit. Um dies inhaltlich zu begleiten und auch den Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen den Beteiligten zu stärken, bin ich seit 2018 als "Beraterin auf Zeit" im Schwerpunkt tätig.

MV: Dieser Austausch ist zentral für unsere Arbeit. Und dabei meine ich nicht nur den Aspekt, dass wir voneinander lernen können. Sondern auch, dass wir verschiedene Perspektiven in die Auseinandersetzung einbeziehen und gelten lassen. Das ist etwas ganz Wichtiges, wenn wir in einem komplexen Themenfeld nach Ursachen und Lösungen suchen, die ganz konkrete Lebenswirklichkeiten berühren. Dafür gibt es keinen Masterplan, sondern es bedarf eines Zugangs zu den Menschen, der vielfältig ist. AGIAMONDO bringt diesen Zugang mit – durch unser weltweites Engagement und die Diversität der Ortskirchen, durch unsere Partnerorganisationen und Fachkräfte, aber auch durch den Ansatz der personellen Zusammenarbeit, der auf Begegnung und Dialog fußt. Das macht meiner Ansicht nach unsere besondere Eignung im "Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und Versöhnung" aus.

Welche sind die nächsten Schritte für die weitere Zusammenarbeit?

FR: Zurzeit ist Vieles in Bewegung. In den Schwerpunktländern und -regionen entstehen gerade Fokusgruppen, oftmals organisiert und begleitet durch unsere Koordinator*innen und Fachkräfte vor Ort. Sie bieten Raum, um verschiedene Erfahrungen zum Umgang mit Gewalt und Versöhnung mit den Partnern zu vertiefen. Anfangs war dieser Prozess noch sehr zaghaft. Mittlerweile ist aber eine Dynamik entstanden, in der die Treffen immer größer werden und sich verstetigen. Auch Akteure, die nicht zum Partnernetzwerk von AGIAMONDO gehören, zeigen Interesse und kommen dazu. Zudem beginnen die Fokusgruppen der verschiedenen Länder, sich auch untereinander auszutauschen. Das ist unheimlich wertvoll. Dadurch können sich die Partner stärker aufeinander beziehen. Und sie erhalten Bestätigung, dass ihre Auseinandersetzung mit gewaltbelasteter Vergangenheit und Versöhnung ein relevantes Thema ist, das uns als globale Gemeinschaft betrifft. Das ermutigt und stärkt alle Beteiligten in ihrer herausfordernden Arbeit, nicht zuletzt auch uns hier in Köln.
Mehr über den Zivilen Friedensdienst beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und beim Konsortium ZFD, bei dem AGIAMONDO Mitglied ist.

24.08.2022

Interview: Eva Maria Helm

Dieser Artikel stammt aus dem AGIAMONDO-Magazin "Contacts", Ausgabe 2/2022. Zum Download der Gesamtausgabe und diesen Artikels.