Ukraine: "Die meisten Geflüchteten sind traumatisiert und brauchen Zuwendung"

Martin Buschermöhle ist Berater auf Zeit bei AGIAMONDO.

Martin Buschermöhle ist als Berater auf Zeit von AGIAMONDO im Auftrag von Renovabis für ukrainische Partnerorganisationen tätig. Hier erläutert er, wie deren Arbeit sich seit dem von der russischen Regierung befohlenen Angriff auf die Ukraine verändert hat. Und was wir in Deutschland für geflüchtete Menschen tun können.

Martin Buschermöhle arbeitet seit 2009 als Berater auf Zeit (BaZ) von AGIAMONDO im Auftrag von Renovabis, der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa. Er unterstützt Renovabis-Partnerorganisationen in verschiedenen osteuropäischen Ländern bei deren Arbeit. Aktuell liegt sein Schwerpunkt auf der Ukraine, wo er mit Organisationen in den Strukturen der römisch-katholischen und der griechisch-katholischen Kirche zusammenarbeitet und Projekte in den Bereichen Sozialdienste, Jugend, Bildung sowie Umwelt und nachhaltige Entwicklung betreut. Hier berichtet er von der aktuellen Situation bei den ukrainischen Partnerorganisationen von Renovabis.

Herr Buschermöhle, wie hat sich die Arbeit der Partnerorganisationen in der Ukraine, mit denen Sie zusammenarbeiten, seit dem 24. Februar verändert? 

Martin Buschermöhle: Der überwiegende Teil der Partner ist in der Ukraine geblieben, um humanitäre Hilfe zu leisten – zum Beispiel bei der Verteilung der Hilfsgüter oder bei der Unterstützung von Flüchtenden aus den Krisengebieten heraus.  Einer der Partner hat mir gerade heute am Telefon erzählt, dass er an der Grenze zwischen dem ukrainischen Gebiet Transkarpatien und der Slowakei hilft, denjenigen Kindern die Ausreise zu ermöglichen, die ohne ihre Eltern in Begleitung anderer Aufsichtspersonen fliehen mussten – weil der Vater beispielsweise in der Armee ist und die Mutter im Krankenhaus arbeitet – und nicht die notwendigen Papiere haben. Außerdem organisiert die Partnerorganisation Unterkünfte für die Flüchtenden auf der Route in den Westen der Ukraine und nach Polen, Rumänien oder andere Länder. Da müssen jetzt Schlafplätze für 100.000 Menschen geschaffen werden, in Kellern, in Turnhallen, in Schulen, in Kirchen, in Pfarreizentren. Die meisten Geflüchteten sind traumatisiert und brauchen Zuwendung. Es gibt ein wahnsinniges Defizit an Möglichkeiten der psychologischen oder auch geistlichen Betreuung bei so einer großen Zahl von Betroffenen. Und die Menschen müssen versorgt werden mit Essen und Kleidung. Viele sind ja nur mit Handgepäck gekommen, mit Kinderwagen und einem Kind an der Hand und einem kleinen Rucksack mit den wichtigsten, schnell noch zusammengesammelten Dokumenten.

Viele Menschen konnten bei der Flucht vor dem Krieg nur das Nötigste mitnehmen.
Im katholischen Gymnasium in Ivano-Frankivsk im Westen der Ukraine erhalten einige von ihnen Unterkunft und Verpflegung.
Auch Kleidung erhalten die Binnenflüchtlinge in den Notunterkünften.
Verteilung von Lebensmitteln an vor dem Krieg geflohene Menschen in der Diözese Ivano-Frankivsk
Die Diözese Ivano-Frankivsk, die die Lebensmittel organisiert hat, ist Projektpartner von Renovabis.
Renovabis hat bisher (Stand 15.3.22) 24 Projekte mit einer Gesamtsumme von 759.000 Euro in der Ukraine unterstützt.

Können die Partnerorganisationen ihre Strukturen und Expertise nutzen, um Geflüchtete zu unterstützen? Und was können Sie als Berater auf Zeit hier beitragen?

M. B.: Ja, die Partnerorganisationen nutzen tatsächlich die bei ihnen etablierten Strukturen, aber auch den Kontakt zu Renovabis. In meiner Tätigkeit als Berater auf Zeit arbeite ich beispielsweise mit einem Zentrum für Menschen mit Behinderungen in Lviv zusammen, das jetzt seine barrierefreien Räume für Flüchtende mit Behinderung zur Verfügung gestellt hat. Und das katholische Krankenhaus in Lviv, das von Renovabis gefördert wird, schickt uns Listen zu benötigten Medikamenten und Ausrüstung. So hat Renovabis beispielsweise auch die Anschaffung mobiler EKG- und Ultraschallgeräte unterstützt. Denn viele – insbesondere ältere – Menschen können aufgrund der häufigen Bombenalarme ihre Häuser nicht verlassen. Zu den Partnerorganisationen, die Renovabis unterstützt, gehören außerdem die Diözesen und die Caritasverbände beider katholischer Kirchen. Diese verfügen über ein großes Netzwerk an ehrenamtlichen Helfer*innen und können den vom Krieg betroffenen Menschen wirksam helfen.

Bekommen Sie mit, ob die Partnerorganisationen unter Repressalien zu leiden haben in den Orten, die von der russischen Armee eingenommen wurden?

M. B.: Das befürchten wir sehr, Genaues wissen wir aber nicht, da wir aktuell nicht zu allen Partnern direkten Kontakt haben. Wir haben eine Partnerorganisation, ein Caritas-Zentrum in Berdjansk, das im Augenblick aktiv ist und auch Hilfsgüter verteilt. Ausländer*innen, Priester oder Aktivist*innen aus den zivilgesellschaftlichen Gruppen stehen möglicherweise bereits auf den Listen des russischen Staatssicherheitsdienstes und sind ganz besonders gefährdet. Wir machen uns große Sorgen, ich habe aber Gott sei Dank bisher keine Informationen über Opfer unter den Partnern, mit denen ich selbst unmittelbar zu tun habe.

Welche langfristigen Folgen, glauben Sie, hat der Krieg auf die Arbeit der Partnerorganisationen vor Ort?

M. B.: Das ist im Augenblick noch schwer zu sagen, weil das noch sehr davon abhängt, wie sich der Krieg weiter entwickelt und ob es bald zu einem Waffenstillstand kommt. Ich befürchte jedoch, dass das weniger realistisch ist. Wie die Renovabis-Partnerorganisationen nach Beendigung der Kriegshandlungen hinaus arbeiten werden, hängt natürlich vor allem davon ab, unter welchen Bedingungen diese Arbeit möglich sein wird. Unter ukrainischer Flagge würden sich die Partnerorganisationen natürlich für den Wiederaufbau und für die Errichtung zivilgesellschaftlicher Strukturen im Sinne der katholischen Soziallehre und für eine europäische Integration engagieren, so wie sie es vor dem Konflikt getan haben. Wenn die Arbeit zukünftig unter russischer Flagge stattfinden wird, ist es schwer abzusehen, was das bedeutet. Die kirchlichen Strukturen, die in der Vergangenheit insgesamt politisch etwas vorsichtiger waren, würden dann möglicherweise toleriert, so wie das in Russland ja auch der Fall ist. Aber nur, solange sie nicht als zivilgesellschaftliche Akteure in Aktion treten, sondern sich auf das Feiern von Gottesdiensten beschränken und sich von der Regierung zur Stabilisierung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen instrumentalisieren lassen, damit die Bürger nicht gegen die Regierung aufbegehren. So wird ja auch die orthodoxe Kirche in Russland instrumentalisiert. Die griechisch-katholische Kirche und die autokephale orthodoxe Kirche der Ukraine würden wahrscheinlich verboten werden, Priester und Bischöfe sowie engagierte Laien müssten damit rechnen, verhaftet zu werden.  

Die Hilfsbereitschaft der Menschen in Deutschland und anderen europäischen Ländern ist groß. Welches Hilfsangebot ist in Ihren Augen am besten geeignet?

M. B.: Wenn Flüchtlinge in Deutschland ankommen, ist es natürlich toll, wenn jemand in der Lage ist, sich um sie zu kümmern, damit die Menschen nicht in irgendwelchen Ghettos isoliert sind, sondern dass sie sich wirklich willkommen und aufgenommen fühlen. Das heißt konkret: Sprachkurse anbieten oder Nachhilfe geben, sich um Kinder kümmern oder ein Fahrrad ausleihen, zum Beispiel. Oder, dass man mit ihnen gemeinsam kocht, wandert oder andere Unternehmungen macht. Das ist natürlich nicht einfach, mit Menschen, mit denen man sich ohne Weiteres nicht verständigen kann. Aber heutzutage hat ja jeder ein Handy, mit dem man schnell übersetzen kann. Also, das Allerwichtigste: Auf die Leute zugehen. Da haben wir in Deutschland ja auch schon sehr viel Erfahrung aus früheren Flüchtlingswellen, zum Beispiel bei den unzähligen Vereinen und Organisationen in allen Regionen und Bundesländern. Ich denke, dass es bald überall in Deutschland dann auch Gruppen von ukrainischen Flüchtlingen bei den Kirchen geben wird, auf die man zugehen kann. Oder man wendet sich an Behörden und signalisiert sein Interesse, ehrenamtlich mitzuarbeiten. Hinsichtlich Sachspenden sind insbesondere lang haltbare Lebensmittel, Energieriegel, Konserven oder z. B. auch Tütensuppen sinnvoll, also Speisen, die man kalt verzehren kann oder höchstens kurz aufwärmen oder mit heißem Wasser übergießen muss, da die Menschen in Notunterkünften oder auf der Flucht oft keine Möglichkeit haben, zu kochen. Und natürlich sind Geldspenden weiterhin willkommen und wichtig, beispielsweise über die Renovabis-Webseite. Die großen Werke und Hilfsorganisationen kooperieren eng miteinander und können bedarfsgerecht und zielgenau vor Ort Hilfe leisten.

Interview: Theresa Huth

18.03.2022