"Nicht vergessen zu sein" – Jugendliche in Israel werben mit Musical um Aufmerksamkeit für prekäre Situation

Aufgrund der aktuellen Rechtslage gelten in Israel Kinder von als Care-Arbeiter*innen zugewanderten Personen als "illegal", obwohl sie im Land geboren wurden.

Mit Darbietungen aus dem Musical "Ruth" der österreichischen Komponistin Birgit Minichmayr wollen die Mitglieder der Jugendgruppe des St. James-Vikariats für hebräisch-sprechende Katholik*innen Aufmerksamkeit für die Situation der Betroffenen schaffen. Am 30.6. fand die erste Aufführung des neuen Jahrgangs in Jerusalem statt. Katrin Tal, die als AGIAMONDO-Fachkraft im Zivilen Friedensdienst die Jugendarbeit des Vikariats mit betreut, berichtet von der Resonanz auf die erste Aufführung und wie das Vikariat die Jugendlichen auch in Zukunft in ihrem Engagement um Aufmerksamkeit und Anerkennung als Teil der israelischen Gesellschaft unterstützt.

Frau Tal, welche Bilanz ziehen Sie zur Aufführung am 30.6.?

Alle Plätze im "Train Theater" in Jerusalem waren vollständig belegt, d.h. 180 Menschen haben die Aufführung live mitverfolgt. Und es gab viele weitere Interessierte, die keinen Platz mehr ergattern konnten und die wir auf die Live-Übertragung des Christian Media Centres auf Facebook vertrösten mussten.
Die Rückmeldungen des Publikums waren durchweg positiv: Viele Besucher – darunter Vertreter*innen unserer Partner und von NGOs sowie Gemeindevorsteher – haben ausgedrückt, dass die Veranstaltung sie sehr berührt hat. Viele haben die mit Zitaten der Jugendlichen und einer Einladung für die kommenden Veranstaltungen bedruckten Postkarten entgegengenommen, die wir am Ende der Aufführung verteilt haben, und haben versprochen, mit einem Teil ihrer Gemeinde wiederzukommen. Aufgrund der hohen Resonanz auf die Aufführung haben wir entschieden, dass es im August anstatt nur einer gleich zwei Aufführungen im Notre Dame Centre in Jerusalem geben wird, das 500 Sitzplätze bietet. Zusätzlich werden wir im kommenden Jahr in das "Awareness"-Jahr starten und etwa vier weitere Konzerte in verschiedenen Gemeinden oder auch an Schulen in Israel geben.   

Die Jugendlichen bei der Aufführung im "Train Theater" am 30.6.2022
Die Jugendgruppe des St. James-Vikariats setzt sich aus Jugendlichen zusammen, deren Eltern als Care-Arbeiter nach Israel eingewandert sind.
Einige der Jugendlichen haben keinen legalen Aufenthaltsstatus.
Mit Auszügen aus dem Musical "Ruth" und Geschichten aus ihrem eigenen Leben warben die Jugendlichen um Aufmerksamkeit für ihre Situation.
Auf Postkarten hielten die Jugendlichen ohne legalen Status ihre Wünsche fest.
Die Postkarten wurden bei der Veranstaltung am 30.6. an das Publikum verteilt, um mehr Aufmerksamkeit für die Situation der Jugendlichen zu erzeugen ...
Katrin Tal (links) und Johanna Binder arbeiten als AGIAMONDO-Fachkräfte bei israelischen Partnerorganisationen mit.

Welches Ziel sollte mit der Aufführung erreicht werden?


Mit dem 30. Juni – dem Ende des Schuljahres – hatten wir einen Aufführungstermin ausgewählt, der normalerweise eine Zeit der Entspannung, der Freiheit und des Genießens für Jugendliche bedeutet. Für den Großteil der Jugendlichen des St. James Vikariats heißt es ab diesem Zeitpunkt jedoch: Angst vor Abschiebung und Zeit des Untertauchens. Mit der Wiedereröffnung des Luftraums im Zuge der Lockerung der Corona-Beschränkungen kehrte bei vielen die Angst zurück, dass die Abschiebeversuche, welche während der Schulferien 2019 begonnen hatten, nun fortgesetzt werden könnten. Ein großer Teil der israelischen Gesellschaft erlebt Kinder von Arbeitsmigrant*innen bereits als integrierten Teil der Gesellschaft. Die meisten sind sich nicht im Klaren darüber, dass lediglich diejenigen Kinder einen legalen Aufenthaltsstatus haben, die zu den zwei entsprechenden Rechtsprechungen im Jahr 2010 eingeschult worden sind und sich über Sport- und Kulturangebote in die israelische Gesellschaft integriert gezeigt haben. Deshalb war es uns wichtig, in der breiteren Öffentlichkeit Bewusstsein für die Situation der Jugendlichen zu schaffen. Mit israelischen Organisationen, wie der Jerusalem Tolerance Coalition als Teil der Jerusalem Stiftung, der egalitären jüdischen Reformgemeinde Kehilat Zion, dem HaKaron Kinder- und Jugendtheater, sowie der Interfaith Initiative in der Negev, konnten wir Partner gewinnen, die dieses Thema einer breiteren Masse zugänglich machen können. Wir sind davon überzeugt, dass es nur mit deren Unterstützung möglich sein wird, politische Entscheidungsträger*innen davon zu überzeugen, dass eine pluralistische Gesellschaft ein Gewinn ist und keine Gefahr bedeutet.  
 

Welche Bedeutung hat es für die Jugendlichen, auf der Bühne zu stehen und so für Aufmerksamkeit für ihre Situation bzw. die Situation ihrer Freund*innen zu sorgen?


Für die Jugendlichen war es in vielerlei Hinsicht von hoher Relevanz, auf der Bühne zu stehen. Diejenigen, die bereits einen legalen Status haben, fanden es wichtig, für ihre Freund*innen einzustehen. Sie hatten außerdem das Musical bereits einmal aufgeführt und konnten sich als Gesangs-, oder Tanzlehrer*innen einbringen und die jüngeren Jugendlichen dazu ermutigen, mit Hilfe des Musicals ihre Geschichte auf der Bühne auszudrücken: Das biblische Buch "Ruth", an das das Musical angelehnt ist, erzählt die Geschichte der gleichnamigen Moabiterin, die sich in schwerer Zeit für einen Neuanfang entscheidet und ihre jüdische Schwiegermutter Naomi in deren Heimat begleitet. In Bethlehem haben sie mit Ausgrenzung und Hunger zu kämpfen. Doch Ruth gibt nicht auf und erlebt, dass Gott sie nicht vergessen hat.
Die Jüngeren waren berührt vom Engagement der Älteren und deren Unterstützung für ihre Sache. Nicht vergessen zu sein und Anerkennung in ihrem Wunsch nach einer Zukunft in Israel zu bekommen, war von großer Bedeutung für sie. Besonders ergreifend war es, als die älteren mit den jüngeren Jugendlichen ohne legalen Status ans Mikrofon traten und stellvertretend für sie ihre Ängste und Wünsche dem Publikum vortrugen.
 

Wie geht es bei dem Thema der als "illegal" erklärten Jugendlichen nach der Aufführung weiter?


Das Vikariat wird sich verstärkt in seiner Netzwerkarbeit einsetzen und den Kontakt zu seinen Partnern vertiefen, z.B. wurde es als Mitglied der Jerusalem Tolerance Coalition vorgeschlagen. Als ZFD-Fachkraft habe ich auch im Namen des Vikariats Ende Juni beim internationalen Workshop "Every Single Way but on Paper? Context and Agency in Migrant and Refugee Children's Legal Liminality" der Hebrew University Jerusalem und der Tel Aviv University 2022 gesprochen und dort unsere Jugendarbeit vorgestellt. Zusätzlich startet das Vikariat ab Herbst mit meiner Unterstützung eine neue Kooperation mit der jesuitischen Initiative für Hochschulbildung "Jesuit Worldwide Learning" mit dem Ziel, den Kindern ohne legalen Aufenthaltsstatus "Ownership" über ihre Zukunft zu geben und sie über zusätzliche Bildungsoptionen auf den internationalen Arbeitsmarkt und internationale akademische Bildungseinrichtungen vorzubereiten. 

 

28.07.2022

Interview: Theresa Huth