Seither verging kaum eine Woche, ohne dass neue Missbrauchsfälle bekannt und diskutiert wurden. Es scheint, als habe sich eine Bewegung Bahn gebrochen, die die Öffentlichkeit dazu motiviert, sich einzumischen. Für die Menschen in Sierra Leone ist das eine große Chance. Sie können endlich Themen ansprechen und Veränderungen anstoßen, die sich bislang im Privaten abspielten und vielfach verschwiegen wurden. Der ZFD und seine Partnerorganisationen vor Ort unterstützen sie dabei, den neuen Freiraum zu nutzen. Gemeinsam mit der Zivilgesellschaft drängen sie darauf, dass die Reformen nicht nur angekündigt, sondern auch umgesetzt werden.
Anliegen Nachdruck verleihen
Dazu ist Advocacy- und Öffentlichkeitsarbeit sehr gefragt. Um diese effektiv zu planen und durchzuführen, berät Sibylle Dirren, AGIAMONDO-Fachkraft für Advocacy- und Medienarbeit, neun Partnerorganisationen des ZFD in Sierra Leone dazu, wie sie ihren Anliegen Nachdruck verleihen können. In Trainings vermittelt sie den Mitarbeiter*innen praktisches Wissen, unterstützt bei Pressekonferenzen, Aufklärungsveranstaltungen oder Gesprächen mit Entscheidungsträger*innen und begleitet die Kampagnenarbeit. Die Analyse der Ursachen, die das komplexe Gewaltphänomen begünstigen, ist dabei ebenso wichtig wie fachliches Know-how. So können Lösungen entwickelt werden, die auch tatsächlich greifen.
Lokale Autoritäten etwa, sogenannte „Chiefs“, spielen in Sierra Leone eine wichtige Rolle bei der effektiven Strafverfolgung von Gewalttätern. Trotz offiziellem Verbot verhandeln sie Vorfälle traditionell außergerichtlich innerhalb ihrer Dorfgemeinschaft. Dadurch bleiben Täter oft straffrei oder werden lediglich zu Ausgleichzahlungen aufgefordert. Im Rahmen einer Kampagne gegen sexuellen Missbrauch, die Don Bosco Fambul im Juli 2019 startete, wurden Chiefs dafür sensibilisiert, Missbrauchsfälle bei den Behörden anzuzeigen.
Starke Aufklärungsarbeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen
Bis für die Menschen in Sierra Leone verbesserter Zugang zur Justiz besteht, ist es trotzdem noch ein weiter Weg, denn: Regeln und Gesetze zu erlassen ist das eine, ihre tatsächliche Anwendung in einer von Traditionen und Gewohnheiten geprägten Realität das andere. Beides in Einklang zu bringen, benötigt starke Aufklärungsarbeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Durch das unermüdliche Engagement der zivilgesellschaftlichen Kräfte und die zunehmende öffentliche Diskussion um das Gewaltproblem hat sich jedoch ein Raum geöffnet, der zur Beteiligung motiviert und selbst die Regierung zu Maßnahmen bewegt.
Auch Don Bosco Fambul und andere zivilgesellschaftliche Akteure nutzen diesen Raum, um sich Gehör zu verschaffen. Durch ihr Engagement wurden in Sierra Leone bereits einige internationale Verträge ratifiziert und nationale Gesetze geschaffen, die die Rechte von Frauen und Kindern schützen. Mittlerweile ist auch das geltende Sexualstrafrecht verschärft und vom Parlament verabschiedet worden. An den Konsultationen hatte sich Don Bosco Fambul beteiligt.
Dem schwierigen Erbe begegnen
Sierra Leone erlebte 2018 einen weitgehend friedlichen Regierungswechsel. Julius Maada Bio trat im April 2018 sein Amt als Staatspräsident an und brachte damit die Sierra Leone People’s Party (SLPP) nach zehn Jahren in der Opposition zurück an die Macht. Seine Wahl war jedoch knapp: In der Bevölkerung herrschen immer noch starke Meinungsunterschiede, die politische Spannungen begünstigen können.
In Sierra Leone herrschte von 1991 bis 2002 Bürgerkrieg, dessen Folgen für die Menschen bis heute spürbar sind. Bereits 1999 beschäftigte sich eine Wahrheits- und Versöhnungskommission mit den Menschenrechtsverletzungen des Krieges und auch damit, wie Frauen, Mädchen und andere marginalisierte Gruppen besser geschützt werden können. Neben Anpassungen auf der gesetzlichen Ebene empfahl die Kommission vor allem Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen, um mit der Kultur des Schweigens zu brechen und Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Der ZFD und seine lokalen Partnerorganisationen unterstützen diese Empfehlungen und setzen sich dafür ein, dass Frauen und Kinder einen verbesserten Zugang zur Justiz haben und ihre Rolle in der Gesellschaft gestärkt wird.
Sichere Räume für Kinder und Jugendliche
Don Bosco Fambul setzt sich als lokale Nichtregierungsorganisation in Sierra Leone für Kinder und Jugendliche ein, die in der Hauptstadt Freetown in äußerst prekären Verhältnissen auf der Straße leben. Don Boscos Mitarbeiter*innen suchen die Kinder dort auf, hören ihnen zu und versuchen, sie nach Kräften zu unterstützen – zum Beispiel durch die Aufnahme in ein Kinderhilfszentrum, durch Bildungsangebote oder die Reintegration in ihre Familien. Mädchen, die vergewaltigt, zwangsverheiratet oder sexuell ausgebeutet wurden, finden in einem Schutzhaus einen sicheren Ort, erhalten dort psychosoziale Unterstützung sowie Schul- und Ausbildungsmöglichkeiten. 2020 soll außerhalb Freetowns ein Therapie- und Forschungszentrum eröffnet werden. Durch Öffentlichkeitsarbeit versucht Don Bosco die Bevölkerung zu mobilisieren und politische Entscheidungsträger*innen dazu zu bewegen, Gesetze zur Ahndung sexualisierter Gewalt und zum Schutz von Frauen und Kindern konsequent umzusetzen.