Welche Arbeitsschwerpunkte hatte Ihre Partnerorganisation in Brasilien?
Ich bin 2016 nach Brasilien gekommen und habe bei der Ordensgemeinschaft der Schwestern der Heiligen Maria Magdalena Postel in der Stadt Leme gearbeitet. Im Sinne des Leitsatzes „Die Jugend bilden, die Armen unterstützen und nach Kräften Not lindern“ betreiben die Schwestern dort eine Schule mit Kindergarten, ein Alten-heim und viele Sozialprojekte am Stadtrand. Ihr Engagement fußt auf zwei Schwerpunkten: Wissen vermitteln, um Chancen zu verbessern, und Nothilfe. Ich war in beiden Bereichen tätig.
Wie konnten Sie hier unterstützen?
Zum einen war ich am Aufbau eines Bildungszentrums beteiligt. Zum anderen habe ich in den Armenvierteln Familien aufgesucht und beraten. Da ging es um die Begleitung zu Ärzten oder Behörden, die Vermittlung der Kinder an Schulen oder die Ausgabe von Lebens- und Hilfsmitteln, um existenzielle Not zu lindern. Gleichzeitig konnte ich die Menschen zur Teilnahme an unseren Aktivitäten im Zentrum ermutigen. Und ich wusste, was ihnen fehlte, zum Beispiel psychologische Beratung, die wir mithilfe ehrenamtlicher Psychologen organisiert haben. Wichtig war mir immer, den Menschen auf Augenhöhe und mit Wertschätzung zu begegnen. Gelernt habe ich, dass es noch so gute Kursangebote geben kann, die die persönliche Entwicklung fördern – wenn jemand um sein Überleben kämpft, hat er den Kopf dafür nicht frei. Deshalb gehören Krisenhilfe und Bildungsangebote für mich zusammen.
Welche gesellschaftlichen Veränderungsprozesse haben Sie in dieser Zeit beobachtet?
Ich habe Brasilien als gespaltenes Land erlebt, in dem es enorme soziale Ungleichheit gibt. Millionen Familien leben am Existenzminimum, werden ausgebeutet und haben kaum genug Geld, um ihre Kinder zu ernähren. Das liegt nicht an den Menschen, sondern an den Gesamtumständen. Die Gesellschaft nimmt diese Chancenungerechtigkeit weitgehend hin. Es gibt auch fast keine Berührungspunkte zwischen Arm und Reich, was gegenseitiges Unverständnis, Ignoranz und Abstumpfung begünstigt – vor allem in einer Atmosphäre politischer Unsicherheit, wie sie momentan spürbar ist.
Von den Korruptionsskandalen und wirtschaftlichen Krisen, die Brasilien in den vergangenen Jahren extrem destabilisiert haben, sind besonders die ohnehin sozial benachteiligten Gruppen betroffen. Vom Gesundheitssystem übersehen, im Schulsystem nicht ausreichend gefördert und von der Rechtsstaatlichkeit allein gelassen, haben viele zu leichte Antworten auf die komplexen Probleme Brasiliens gesucht. In Gesprächen habe ich immer wieder gehört, dass sich die Menschen eine „starke Hand“ erhofften, die die Ordnung im Land wiederherstellt. Dann wurde der rechtskonservative Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt.