Die Schule läuft auf einem Esel mit

Schule für Hirtenvölker: Schule für Pastoralisten, also für Menschen, die eine wandernde Naturweidewirtschaft betreiben – ‎geht das? Die Beraterinnen auf Zeit Theresa Schaller und Ruth Würzle entwickeln hierfür ‎Lerninhalte, Lehrertrainings oder didaktisches Material. Dabei greifen sie auch auf Ziegenfell ‎zurück.‎

Theresa Schaller und Ruth Würzle sind Schulentwicklerinnen und Lehrerinnen aus Leidenschaft. Doch sie unterrichten nicht an einer Schule im herkömmlichen Sinn. „Ihre“ Schule findet unter Bäumen statt, wird von Pastoralisten geführt und wandert mit den Schulkindern auf den Rücken von Eseln. Denn für die Kinder des Pastoralistenvolk der Daasanach entwickelten die beiden Beraterinnen auf Zeit ein mobiles Schulsystem in Illeret/Nordkenia. Wenn die beiden nicht in Kenia sind, konzipieren sie neue Lerninhalte, Lehrertrainings oder didaktisches Material und Erklärvideos. Und mit dem Missionsbenediktiner Pater Florian arbeiten sie an der praktischen Umsetzung der mobilen Schulen in Nordkenia, die vom Illeret Nomadic Education System (INES) getragen werden.

Forschung zu alternativen Lernsystemen

Die beiden Frauen lernten sich an der Universität Regensburg kennen, wo sie Lehramt für Realschulen studierten. Parallel dazu forschten sie in Projekten zu alternativen Lernsystemen an ihrer Uni.

Theresa Schaller und Ruth Würzle
Perlen sind bei den Daasanach fester Bestandteil der Kultur.
Mobile Schule unter einem Baum

Darunter war auch bereits das INES Projekt, das vom Orden der Missionsbenediktiner in St. Ottilien unterstützt wird. In Illeret gibt es seit 2002 ein Benediktinerkloster, wo Pater Florian im engen Kontakt mit den Daasanach lebt.  Diese Ethnie zieht seit Jahrtausenden durch die Savannen rund um den Turkanasee. Sie leben in Foras, in rund aufgestellten Hütten umgeben von einer Dornenhecke. Ihre Kinder besuchten bisher keine Schule, weil dies mit dem Nomadenleben unvereinbar ist.

MultiGradeMultiLevel-Methodology

Und hier kommen Theresa Schaller und Ruth Würzle ins Spiel. Während des Studiums lernten sie das indische Lernleitersystem (MultiGradeMultiLevel-Methodology) kennen. Es ermöglicht – geleitet durch Bilder und Symbole – individuell zu lernen, ohne dass zunächst Schriftkenntnis nötig ist. Wie lässt sich dieses System in Daasanach anwenden? Das fanden sie durch Gespräche mit Pater Florian heraus. Theresa Schaller und Ruth Würzle passen seither das indische Lernleitersystem an die Anforderungen einer wandernden Schule an. Und sie integrierten Elemente der Daasanach-Kultur in den kenianischen Lehrplan.

Schule unter dem Baum

Wo die Daasanach sich gerade befinden, findet die Schule unter einem Baum statt, an dem die Lernleitern aus Stoff hängen. Das einzelne Kind kommt unter den Baum, wenn es seinen Anteil an der Familienarbeit, in der Regel das Hüten der Tiere, erledigt hat. Im System „Lernleitern“ lernt jedes Kind im eigenen Tempo. Am Ende eines Lernschrittes wird das Gelernte evaluiert. Jedes Kind hat einen eigenen Perlenanhänger an der Lernleiter befestigt, wo es gerade steht. Auch wenn es auf dem Anhänger seinen Namen noch nicht lesen kann, erkennt es an der Farbkombination der Perlen seinen Anhänger.

Die Lernleitern sind auf Stoff gedruckt und der Lernstand jedes Kindes ist mit einem Namensanhänger markiert.
Ein Lehrer unterrichtet eine kleine Schülergruppe.
Theresa Schaller und Ruth Würzle bilden auch die zukünftigen Lehrer aus.

Symbole zeigen, wo das Material zu den Lernschritten in den Gepäcktaschen des Esels zu finden ist. Die Symbole stammen aus dem Leben der Kinder. In jedem Kral auf der Lernleiter begegnen die Kinder einem Thema, z. B. einen neuen Buchstaben. Das Kind bewegt sich im Kral schrittweise voran. Bei jedem Schritt ist angezeigt, ob einzeln, zu zweit in Gruppen oder mit dem Lehrer gelernt wird. Lernschwerpunkte sind Schrifterwerb, Mathematik und Lebenskunde (life studies) jeweils mit einer eigenen Lernleiter.

Zahlenkarten aus Ziegenfell

Materialien wie Ziegenfell und Perlen gehören zur Daasanach-Kultur. Ihr Vorteil ist, dass sie wasser- und hitzebeständig sind. Deshalb nutzten Ruth Würzle und Theresa Schaller sie beispielsweise für Zahlenkarten aus Fell. Daasanach-Frauen bestickten die Fellstücke mit Perlen in Zahlen- oder Buchstabenform. Holzklötzchen und Perlen werden für Zahlenstangen verwendet. Das Lernmaterial kann komplett eingerollt und in mehreren Taschen auf einem Esel verstaut werden, damit die Schule mitwandern kann.

In Kenia aufgewachsen

Der Kontakt nach Nordkenia war nicht die erste Begegnung der beiden Frauen mit einem afrikanischen Land. Ruth Würzle ist in Kenia aufgewachsen und Theresa Schaller arbeitete als Freiwillige in einem Montessorikindergarten in Tansania. Beide setzten Lernleitern schon während ihres Studiums in deutschen Schulen ein. Viele Lehrer und Schüler waren begeistert, weil durch dieses Lernsystem jeder in seinem Tempo ans Ziel kommt.

 

Fotos: Ruth Würzle und Theresa Schaller, Text: Ursula Radermacher