Drei Fragen an Stefan Recker, Leiter des Büros von Caritas international in Afghanistan

AGIAMONDO-Fachkraft Stefan Recker leitet im Auftrag des Deutscher Caritasverband e. V. das Büro von Caritas international (Ci) in Kabul, wo er sich auch während der Machtübernahme durch die Taliban aufhielt. Im Interview berichtet er von der aktuellen Lage und gibt eine Einschätzung, was der Machtwechsel für die zukünftige Arbeit vor Ort bedeutet.

Herr Recker, Sie sind am Dienstag im Zuge der Evakuierung deutscher Staatsbürger durch die Bundeswehr aus Afghanistan ausgereist. Können Sie die Situation beschreiben, die im Land bei Ihrer Ausreise geherrscht hat?

Stefan Recker: "Ich habe am Dienstag zum ersten Mal seit dem Machtwechsel das Caritas-Büro verlassen, um zum Flughafen zu fahren. Vorher habe ich mich das nicht getraut, denn ich wollte möglichst wenig Aufmerksamkeit auf unser Büro lenken. Als ich am frühen Nachmittag losfuhr, war relativ wenig los. Es gab wenig Verkehr, nur wenige Geschäfte hatten geöffnet und die, die geschlossen waren, hatten teilweise ihre Waren versteckt – aus Angst vor Plünderung. Auf der Fahrt habe ich einige Taliban-Patrouillen gesehen, angehalten wurde ich aber nicht. Trotzdem ist die Lage ziemlich angespannt, denn den Menschen fehlt das Geld, da alle Banken geschlossen sind. Aber auch wenn sie geöffnet hätten, würde man dort kein Geld erhalten, denn die Zentralbank hat die Zahlungen eingestellt. Zusätzlich haben sich die Preise für Lebensmittel und andere alltägliche Dinge stark erhöht. Und die Kolleg*innen im Caritas-Büro haben Angst vor Repressalien durch die Taliban, weil sie für eine westliche Organisation arbeiten."

Wie schätzen Sie nach der Machtübernahme durch die Taliban die Lage für Ihre zurückgebliebenen afghanischen Kolleg*innen und die Zielgruppen der Projekte vor Ort ein?

Stefan Recker: "Die bisherigen Verlautbarungen der Taliban zum Umgang mit humanitären Hilfsorganisationen waren sehr vernünftig. Ich weiß allerdings nicht, wie nachhaltig und verlässlich diese Aussagen sind. Denn wir wissen noch nicht, welche "Schura" – d.h. welche Fraktion – der Taliban wirklich das Sagen haben wird. Momentan ist es so, dass die Arbeit von Caritas international nur bedingt fortgeführt werden kann, da auch wir von den Bankenschließungen betroffen sind und das Geld fehlt, um beispielsweise Sicherheitsmaßnahmen für unsere Kolleginnen vor Ort bereitstellen zu können. Deshalb kommen diese Woche nur unsere männlichen Kollegen ins Büro, und nur, wenn es sicher ist. Wir müssen die kommenden Tage und Wochen schauen, wie sich die Situation entwickelt

Hinsichtlich der Zielgruppen der lokalen Ci-Partnerorganisationen sehe ich Probleme vor allem bei unseren Projekten in den Bereichen Drogenabhängigkeit und psychosoziale Gesundheit. Denn die Taliban haben eine extreme Anti-Drogen-Politik – obwohl sie sich durch den Anbau von Schlafmohn finanzieren, aus dem Opium und Heroin gewonnen werden. Und auch teilweise selbst Drogen konsumieren. Dennoch ist ihre Herangehensweise an drogenabhängige Menschen rigoros. Und bei Fragen der psychosozialen Gesundheit stellen sie den Koran und die Scharia als alleiniges Heilmittel dar. Da stellt sich für mich die Frage, wie sich die Arbeit zukünftig gestalten wird."

Im Interview mit dem WDR haben Sie gesagt, dass Sie die Arbeit von Ci auch unter den Taliban weiterführen möchten. Wie wird es – Stand heute – mit der Arbeit von Ci in Afghanistan weitergehen? Und wie ist Ihr persönlicher Plan bezüglich einer erneuten Ausreise nach Afghanistan?

Stefan Recker: "Wir hoffen, dass sich die Aussagen der Taliban, dass wir unsere Arbeit weiterführen können, bewahrheiten. Hier ist vor allem das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) gefragt, mit den Taliban zu verhandeln, unter welchen Bedingungen das geschehen kann.
Ich selbst möchte so schnell wie möglich zurück nach Kabul. Wann das sein wird, ist noch offen, das wird vor allem von der weiteren Sicherheitsentwicklung abhängen."

Interview: Theresa Huth

20.08.2021